Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
ein Adjektiv und bezeichnet eine vierte Art von Brücken. Also: noch Stein- oder Zug-, geschweige denn Hänge- oder Zollbrücken . Aiguilles bietet keine größeren Probleme. Schwierig jedoch ist chartes murales : Das Wort und auch die Sache gibt es nicht. Ausgehend von chartes (Charta, Urkunde) und carte murale (Wandkarte) erfindet Proust etwas, was mittelalterlich klingt. Ich übersetzte diese Erfindung mit Wandchartas . Noch schwieriger wird es bei montjoies : Proust setzt als Pointe der ganzen Passage ein Wort, in dem sich das alte Frankreich sozusagen verdichtet. Gewiß hat das Wort auch spezielle Bedeutungen: Montjoie Saint-Denis! ist der alte Kriegsruf der Franzosen. Mit montjoie wurden auch die Steinpyramiden an den Wegkreuzungen im mittelalterlichen Straßennetz sowie gewisse Grabhügel oder Denkmäler ( Malhügel bei Benjamin und Hessel) bezeichnet. Eva Rechel-Mertens versucht es noch einmal analytisch-erklärend; in der Frankfurter Ausgabe steht Denkmäler aus heldischer Frühzeit .
Das Beispiel macht auch deutlich, wie schwierig es ist, im Deutschen die Pointen des französischen Originals beizubehalten. Da meldet sich immer das Verbum irgendeines Nebensatzes, das partout das letzte Wort haben will. Dabei sollte doch diese Passage nicht mit dem farblosen gebe , sondern mit einem thematisch gewichtigeren Wort enden, beispielsweise mit Malhügel oder eben aus heldischer Frühzeit .
Um die Proustschen Pointen geht es auch in meinem letzten Beispiel zur Textrevision, der Ouvertüre zu der Gefangenen . So lautet der Text in der Vorlage: »Dès le matin, la tête encore tournée contre le mur et avant d’avoir vu, au-dessus des grands rideaux de la fenêtre, de quelle nuance était la raie du jour, je savais déjà le temps qu’il faisait. Les premiers bruits de la rue me l’avaient appris, selon qu’ils me parvenaient amortis et déviés par l’humidité ou vibrants comme des flèches dans l’aire résonnante et vide d’un matin spacieux, glacial et pur; dès leroulement du premier tramway, j’avais entendu s’il était morfondu dans la pluie ou en partance pour l’azur. Et peut-être ces bruits avaient-ils été devancés eux-mêmes par quelque émanation plus rapide et plus pénétrante qui, glissée au travers de mon sommeil, y faisait entonner, à certain petit personnage intermittent, de si nombreux cantiques à la gloire du soleil que ceux-ci finissaient par amener pour moi, qui encore endormi commençais à sourire et dont les paupières closes se préparaient à être éblouies, un étourdissant réveil en musique.« ( La Prisonnière [3], Bd. III, S. 519.)
Gewiß hat das Erwachen inmitten der Geräusche des anbrechenden Tages, dieses Erwachen in Musik, expositorische Funktionen: Musik ist ein Hauptthema in La Prisonnière . Gleichzeitig aber ist diese Exposition selbst ein musikalischer Text. In ihm ist von Musik die Rede; ein kleines Wesen tritt auf, das Hymnen zum Ruhm der Sonne anstimmt. Es ist zu beachten, daß Proust nombreux in seiner ästhetischen, prosodisch-musikalischen Bedeutung verwendet, also nicht als zahlreich , sondern als wohlgemessen oder harmonisch . Musikalisch ist dieser Text aber besonders in seiner Komposition. Die Einsätze sind sorgfältig ausgeformt: Dès le matin – dès le roulement ; ebenso die Schlüsse, die Klauseln: un matin spacieux, glacial et pur (Proust macht sich zwar mehrmals über die Regel der drei Adjektive der Marquise von Cambremer lustig; er selbst verwendet jedoch diesen rhetorischen Kunstgriff sehr häufig); dann en partance pour l’azur – ein betont prosodischer Schluß, klingt darin doch die klassische Metrik an. Liest man die unbetonte Endsilbe mit, ergibt partance pour l’azur , liest man sie nicht mit, ergibt en partance pour l’azur einen halben Alexandriner. Außerdem reimt sich dieser Schluß mit dem vorangehenden: pur – azur . Der nächste Schluß dann, die nächste Klausel, réveil en musique , benennt das Prinzip, das bei der Komposition der ganzen Passage am Werk ist. Bei der Revision beziehungsweise der Neuübersetzung dieses Textes habe ich mich bemüht, wenigstens die Schlüsse ins Deutsche hinüberzuretten, die bei Eva Rechel-Mertens alle mit nichtssagenden Verben wie kamen , nahm und wurden besetzt sind. Mit einiger Mühe ist mir das gelungen, mit dem Resultat allerdings, daß das Lektorat alles wieder umgestellt und – wie es seine Aufgabeist – den Regeln der deutschen Grammatik angepaßt hat. Auch für nombreux
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