Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Vorstellung hinein, »Übermenschen« zu sein. Dabei fühlten sie sich von Schriften des Philosophen Friedrich Nietzsche inspiriert.
So schrieb Nathan seinem Freund Richard: »Ein Übermensch … ist wegen bestimmter überlegener Eigenschaften, die ihm innewohnen, freigestellt von den gewöhnlichen Gesetzen, denen Menschen unterliegen. Er ist nicht haftbar, egal was er tun mag.« Offensichtlich nahm das Gefühl der beiden, besser zu sein als andere Menschen, deutlich größenwahnsinnige Züge an.
Ein übersteigertes Bild von sich selbst und ein minderwertiges von den Mitmenschen zu haben, sind typisch psychopathische Merkmale. Jedenfalls dann, wenn sie mit anderen psychopathischen Eigenschaften zusammenfallen. Nathan und Richard hatten einige stark ausgeprägte psychopathische Eigenschaften gemeinsam. Der Psychiater Dr. Glueck, welcher Richard später begutachtete, sagte über ihn: »Ich war verblüfft vom völligen Fehlen irgendeines Anzeichens für normale Gefühle, wie man es unter diesen Umständen erwarten würde. Er zeigte kein schlechtes Gewissen, keine Reue, kein Mitgefühl für die Menschen, die in die Sache verwickelt waren.«
Auch Nathan vermochte seinen späteren Gutachter, den Psychiater Dr. Healy, durch seine gefühlsmäßige Gleichgültigkeit zu schockieren. Seine Haltung zu dem Mord beschrieb er so: »Die Entscheidung zu treffen, einen Mord zu begehen oder nicht, war praktisch dasselbe, wie die Entscheidung zu treffen, einen Kuchen zum Abendbrot zu essen oder nicht, ob mir dies Vergnügen bereiten würde oder nicht.« Nathan und Richard waren stark psychopathische Menschen mit einer feindseligen Einstellung gegenüber allen anderen. Dies machte ihre Freundschaft sehr gefährlich.
Psychopathische Teamarbeit mit gemeinsamen Zielen
Zunächst begannen die vom Leben und ihren Mitmenschen gelangweilten jungen Männer, gemeinsam kleine Diebstähle zu begehen. Diese hatten sie keinesfalls nötig, da ihre Familien sehr wohlhabend waren. Typisch psychopathisch ging es ihnen um den »Kick«, etwas Verbotenes zu tun, ohne erwischt zu werden. Bald reichten diese kleinen Kicks ihnen nicht mehr aus. Sie steigerten sich in eine »ultimative Machtphantasie« hinein: die Idee, das perfekte Verbrechen zu begehen.
Dieses Verbrechen sollte auf mehreren Ebenen »perfekt« sein: Erstens wollten sie einem Menschen das Leben nehmen. Dies wäre ein ultimativer Machtbeweis. Zweitens wollten sie von der Familie dieses Menschen Geld erpressen. Es ging dabei nicht um das Geld an sich, sondern darum, auch noch Kontrolle über die Familie des Opfers auszuüben. Drittens glaubten sie, so intelligent zu sein, dass niemand sie je überführen könnte. Damit wäre ihre Überlegenheit gegenüber den anderen Menschen endgültig bewiesen. Somit sollte die Tat die drei wichtigsten Bedürfnisse von Nathan und Richard befriedigen, zugleich die absoluten Grundbedürfnisse der meisten Psychopathen: Macht, Kontrolle und Überlegenheit. Sieben Monate lang planten die jungen Männer ihre Tat.
Am Mittwoch, dem 21. Mai 1924, lockten die Studenten den Millionärssohn Robert Franks auf seinem Heimweg von der Schule in ein Auto, das sie eigens für diesen Zweck ausgeliehen hatten. Es war für sie einfach, den 14-Jährigen zum Einsteigen zu bewegen, denn er kannte die beiden. Er war mit Richard entfernt verwandt und sein Nachbar. Die Täter knebelten Robert, indem sie ihm Socken in den Mund stopften, und schlugen ihn mit einem Meißel bewusstlos. Dann erstickten sie den Jungen gemeinsam.
Mit der Leiche im Auto fuhren Nathan und Richard in eine andere Stadt, wo sie den toten Jungen entkleideten. Seine Kleidung ließen sie unterwegs am Straßenrand zurück. Während die nackte Leiche noch im Wagen lag, legten sie eine kurze Pause an einem Hotdog-Stand ein. Der Mord hatte ihnen offensichtlich keineswegs den Appetit verdorben. Anschließend warfen sie Roberts Leiche in einem abgelegenen Gebiet in einen Graben. Um die Identifizierung zu erschweren, übergossen sie das Gesicht mit Säure.
Zurück in Chicago rief Nathan sofort Roberts Mutter an. Er sagte, sein Name sei George Johnson, und teilte der zutiefst besorgten Frau mit: »Ihr Sohn wurde entführt. Es geht ihm gut. Morgen früh wird es weitere Neuigkeiten geben.« Danach schickten die Studenten einen Erpresserbrief an Roberts Familie, den sie bereits vor der Tat auf Nathans Schreibmaschine getippt hatten:
»Sehr geehrter Herr:
Wie Sie zweifellos inzwischen wissen, ist Ihr Sohn entführt
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