Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Regelmäßigkeiten stecken. Darüber hatte ich vorher nie nachgedacht. Es erschien mir interessant, weil ich jede Art von Regelmäßigkeiten – vor allem solche, die anwendbare Informationen liefern – spannend finde.
Inzwischen weiß ich, dass sich nicht nur bei Legasthenikern, sondern auch bei Menschen mit nur leichter Lese-Rechtschreib-Schwäche »individuelle Störungsmuster« erkennen lassen: Das bedeutet, man kann bei Einzelpersonen, die davon betroffen sind, mehr oder weniger deutlich ein System erkennen. Manche lassen Silben aus, manche verwechseln eher bestimmte Buchstaben. Und es haben sich falsche »Wortbilder« eingeprägt; falsche Schreibweisen ein und desselben Wortes tauchen also immer wieder auf.
Diese Dinge kamen mir in den Sinn, als ich die Rechtschreibfehler der selbstverfassten Beiträge auf der Facebookseite des Mannes betrachtete. Ich sah, dass er auf die immer gleiche, falsche Art an bestimmten Stellen Kommas setzte. Auch seine Groß- und Kleinschreibung folgte einer gewissen »Fehler-Logik«. Das kam mir bekannt vor. Ich schaute mir Kopien einiger Drohbriefe, die er erhalten haben wollte, genauer an. Tatsächlich waren in ihnen die gleichen Komma-Fehler wie auch die gleiche »Fehler-Logik« der Groß- und Kleinschreibung zu erkennen.
Das führte ich bei der nächsten Fall-Besprechung an: »Entweder ist die Frau intelligent und listig genug, um so geschickt die Rechtschreibschwäche des Mannes zu kopieren. Das glaube ich aber nicht, wenn ich mir ihr Internetprofil ansehe. Oder der Mann hat die Briefe selbst geschrieben und macht seinem Umfeld damit etwas vor. Das halte ich für sehr wahrscheinlich.« Konfrontiert mit dieser und anderen Überlegungen beschloss der Mann, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Hochmut kommt vor dem Fall
Nachdem Nathan und Richard den Brief an Roberts Eltern abgeschickt hatten, verbrannten sie ihre blutbefleckte Kleidung, reinigten die Polster des Leihwagens und verbrachten gemeinsam einen gemütlichen Abend mit Kartenspielen. Ganz offensichtlich waren die psychopathischen Eigenschaften »fehlendes Mitgefühl« und »fehlendes Schuldgefühl« bei den beiden sehr deutlich ausgeprägt. Doch der Plan der »Möchtegern-Übermenschen« ging nicht so auf, wie sie es sich erhofft hatten.
Roberts Vater erhielt den Erpresserbrief am nächsten Morgen. Sein Freund, der bekannte Anwalt Samuel Ettelson, hatte ihm seit dem Verschwinden seines Sohnes am Nachmittag zuvor zur Seite gestanden – die einzige Person, die Roberts Vater direkt benachrichtigt hatte. Ettelson schaute sich den Brief an und beschloss, erst einmal seinen Freund, einen Chefermittler bei der Polizei von Chicago, um Rat zu bitten. So konnte ein erfahrener Polizeibeamter zu Rate gezogen werden, ohne dass die Entführer davon erfuhren. Schließlich würde so nicht offiziell ermittelt werden.
Die vertrauliche Information über Roberts Entführung gelangte jedoch noch am gleichen Tag, wohl durch einen Informanten, zu einem Zeitungsreporter. Dieser erfuhr nun auch, dass Bahnarbeiter in einem abgelegenen Gebiet an der Grenze zwischen Chicago und dem Bundesstaat Illinois die Leiche eines Jungen entdeckt hatten. Es wurde gerade geprüft, ob der Junge bei einem Unfall ertrunken oder auf andere Art ums Leben gekommen sein könnte. Dass jemand die Leiche so schnell entdecken würde, damit hatten Nathan und Richard nicht gerechnet. Ausgerechnet dieser Zeitungsreporter zählte eins und eins zusammen und nahm Kontakt zu Roberts Vater auf. Der wollte zunächst nicht glauben, dass es sich bei dem Toten um seinen Sohn handeln könnte. Er schickte seinen Schwager los, der sich die Leiche ansehen sollte.
Kurz darauf klingelte wie angekündigt das Telefon im Haus von Roberts Eltern. Ettelson nahm das Gespräch an und hörte, wie der angebliche »George Johnson« ihm eine Anweisung mitteilte: »Ich werde ein Taxi zu Ihrem Haus schicken. Steigen Sie ein und fahren Sie zum Drugstore an der 1456 East Sixty-third Street.« Ettelson war sehr nervös, ebenso wie Roberts Vater, der sich den Telefonhörer reichen ließ und die Anweisung nochmals mitgeteilt bekam. Damit endete das Gespräch. Dummerweise hatten Vater und Anwalt weder Stift noch Papier zur Hand, als sie das Telefonat entgegennahmen. Die Männer, beide nach schlafloser Nacht und äußerst angespannt, stellten fest, dass sie die Adresse nicht richtig erinnerten. Bevor sie sich näher mit diesem Problem auseinandersetzen konnten, klingelte das Telefon erneut. Roberts
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