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Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Titel: Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Benecke
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gar nicht selten vor. Einige Menschen, die als Kinder Missbrauchsopfer wurden, werden als Erwachsene selbst zu Tätern. Warum dies so ist, ist noch nicht abschließend geklärt.
    Der junge Mann, der mir als Opfer und Täter zugleich gegenüberstand, erzeugte in mir etwas, das ich in diesem Job sonst nur sehr selten empfinde: ein auf mich selbst abfärbendes Gefühl. Mir wurde klar, dass nur einige Zufälle in unseren teils so ähnlichen Lebensgeschichten dafür sorgten, dass er schließlich als Täter im Gefängnis landete, ich dagegen als angehende Psychologin, die mit solchen Tätern arbeiten wollte.
    Man hätte nur zwei Merkmale in unseren Lebensgeschichten austauschen müssen, und wir hätten bei unserer Begegnung auf der jeweils anderen Seite gestanden: Wäre ich in seinem Ghetto aufgewachsen und er in meinem. Und zweitens: Wäre ich auch ein Junge gewesen und nicht ein Mädchen. Dann hätte ich als Kind dem Mann, der ihn missbrauchte, zum Opfer fallen können, während er vielleicht in meinem Ghetto niemals missbraucht worden wäre. Vielleicht hätte ich dann auch eine Kernpädophilie entwickelt, er dagegen eine »normale« Sexualität. Vielleicht hätte ich dann die Taten begangen, für die er nun im Gefängnis saß. Vielleicht hätte er es genauso wie ich geschafft, das Abitur zu machen und zu studieren. Dann hätte er dort gesessen, als Praktikant kurz vor Abschluss seines Psychologiestudiums. Und ich wäre vielleicht der noch sehr kindlich aussehende junge Mann gewesen, das Opfer, das zum Täter wurde.
    Nur zwei Dinge, und alles wäre vielleicht ganz anders gekommen. Man spricht hier vom »Butterfly Effect«. Im ersten Moment war dies ein sehr verstörender Gedanke für mich, verbunden mit einem sehr beunruhigenden Gefühl. Es war allerdings auch eine sehr fruchtbare Erfahrung.
    Nach meinem Praktikum durfte ich weiter in der Gruppe für Missbrauchstäter mitarbeiten. Das tue ich bis heute. So sah ich, wie sich dieser junge Mann in den wöchentlichen Gruppentherapiesitzungen über mehrere Jahre veränderte. Er machte eine persönliche Entwicklung, die mich sehr beeindruckte. Anfänglich war er noch der Täter, der völlig durch seinen Ziehvater gesteuert wurde und jedes Unrecht der Parallelwelt der Pädophilen leugnete. Doch mit der Zeit wurde er zu dem Menschen, der er viel früher hätte werden können.
    Nur seine pädophile sexuelle Neigung verschwand nicht. Leider gibt es bis heute keine angemessene Behandlung, mit der man eine einmal fest ausgeprägte sexuelle Neigung ernsthaft verändern kann. Doch er arbeitete alles auf, was ihm passiert war und was er selbst anderen angetan hatte. Er entwickelte Gefühle für das Grauen, dem er zum Opfer gefallen war und das er irgendwann konsequent zu leugnen gelernt hatte. Ebenso lernte er wahrzunehmen, welches Leid er seinen Opfern zugefügt hatte, er lernte sich schuldig zu fühlen. Er würde für immer damit leben müssen, sagte er, dass er bei seinen eigenen Opfern unter Umständen schwerwiegende psychische Probleme ausgelöst hatte. Vielleicht würden sie ähnliche Probleme entwickeln wie er und sein jüngerer Bruder.
    Der Bruder wurde immerhin nicht pädophil. Er ist ein heterosexueller junger Mann, der gleichaltrige Frauen als sexuelle und partnerschaftliche Gegenüber sucht. Doch er entwickelte schwere Depressionen, derentwegen er lange in Behandlung war, ohne dass sie je völlig verschwanden. Ich kann aus jahrelanger Arbeit und persönlicher Bekanntschaft und Freundschaft mit vielen ehemaligen Missbrauchsopfern sagen: Es gibt kein Opfer, das nicht deutliche Spuren an seiner Seele zurückbehält. Die Wunschvorstellung der Täter, dass sie keinen Schaden an den Kindern anrichten würden, ist eine schreckliche Selbsttäuschung. Nicht jedes Opfer entwickelt die gleichen Probleme. Es ist von Fall zu Fall unterschiedlich, welche Folgen der Missbrauch hat und wie schwer sie sich auf das Leben der Opfer auswirken. Doch ohne deutliche dauerhafte Schäden an seiner Psyche und seiner Persönlichkeit bleibt kein Opfer zurück.
    Diese Lektion lernte auch der junge Mann, den ich bis zu seiner Entlassung aus dem Gefängnis einige Jahre später Woche für Woche erlebte. Er verstand, dass sowohl er wie auch sein Bruder für den Rest ihres Lebens psychische Probleme haben werden, als direkte Folge des jahrelangen Missbrauchs. Er lernte, dass er schwere Schuld auf sich geladen und andere auf dieselbe Art verletzt hatte, auf die er verletzt worden war. Besonders hart war es

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