Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
offen zu ihrer stets stilvoll-adretten Kleidung. Mit diesem Erscheinungsbild könnte sie eine Darstellerin der bekannten Anwalts-Fernsehserie »Ally McBeal« sein. Ich, damals siebenundzwanzig, mit langen, roten Haaren und schwarzer Kleidung, die eindeutig dem Stil der Gothic-Subkultur zuzuordnen ist. Noch mehr als das Aussehen befremdete einige Polizeibeamte aber unser Verhalten.
Sie wussten zwar, dass wir die Videos auswerten wollten, sie wussten auch, warum. Doch der eine oder andere Polizeibeamte wirkte schon etwas verwundert. Zwei kleine, mädchenhaft aussehende Frauen so lange interessiert, aber keineswegs gefühlsmäßig berührt vor diesen Videos sitzen zu sehen, erschien ihnen doch irgendwie ungewöhnlich. Vor allem wenn wir erzählten, dass wir dies nun eine Woche lang tun würden, jeden Tag an einem anderen Ort. Mehr als einmal wurde uns daher »beiläufig« die Frage gestellt, ob wir es als Wissenschaftlerinnen nicht doch belastend fänden, uns so lange und so genau Videos anzuschauen, auf denen wir Menschen langsam sterben sehen. Unsere Antwort war schlicht: »Nein, finden wir nicht, wir finden das wissenschaftlich sehr interessant.« Darauf folgten keine weiteren Kommentare. Ich vermute jedoch, dass einige der Beamten insgeheim dachten: »Wissenschaftler sind halt kauzig, auch wenn sie wie nette Mädchen aussehen.«
Das mag sogar stimmen. Es gilt sicher nicht für alle Wissenschaftler, aber für viele, die dauerhaft im forensischen Bereich arbeiten. Irgendwann wurde mir klar: Die Fähigkeit, zum Beispiel solche Videos derart unbeteiligt zu betrachten, hat wie alle Eigenschaften Vor- und Nachteile. Einerseits kommt man vielen Menschen »komisch« vor und eckt häufiger, wenn auch ungewollt, mit anderen an. Andererseits kann man diese Fähigkeit – wie ich und viele andere Menschen in ähnlichen Berufen – nutzen und sich darüber freuen, dass man damit etwas Sinnvolles erreicht.
Eines meiner Lieblingszitate, die diese Haltung widerspiegeln, stammt aus der BBC-Fernsehserie »Sherlock«. Sherlock Holmes sagt in einem Leichenschauhaus zu seinem Bruder Mycroft, während sie aus der Ferne eine trauernde Familie beobachten: »Sieh sie dir nur an. Es geht ihnen allen so unglaublich nahe. Fragst du dich je, ob irgendwas mit uns nicht stimmt?« Darauf antwortet Mycroft Holmes: »Alles Leben endet. Alle Herzen werden gebrochen. Mitgefühl bringt keinen Vorteil, Sherlock.«
Es ist nicht so, als hätte ich kein Mitgefühl. Aber wenn ich mit einem Straftäter arbeite, dann sehe ich den Menschen vermutlich ähnlich, wie ein KFZ-Gutachter einen Unfallwagen betrachten würde: Er fragt sich, ob an dem Wagen bestimmte Teile kaputt sind, ob er dadurch nicht so funktionierte, wie er sollte, und schließlich den Unfall verursachte. Der Sachverständige wird seinen Job nicht allzu lange machen können, wenn er sich bei jedem Unfallwagen fragt, wer jetzt an der Tragödie schuld und wie groß das durch den Unfall verursachte Leid ist.
Der Unterschied zwischen der Arbeit des KFZ-Sachverständigen und meiner liegt nur darin, dass es bei Straftaten im Gegensatz zu Autounfällen stets um die Frage von Schuld, Sühne und Gerechtigkeit geht.
Auch ich sehe eine persönliche Schuld bei Straftätern, die sich für ihre Tat entschieden haben, obwohl sie eine andere Entscheidung hätten treffen können. Doch wenn ich mit ihnen arbeite, will ich in erster Linie verstehen, was bei ihnen »kaputt« ist. Welche ihrer Eigenschaften führte dazu, dass sie diese Tat begingen? So kann ich etwas aus dem Fall lernen und sehen, ob dieses kaputte Etwas in ihnen mit einer Therapie so weit »reparierbar« ist, dass sie dauerhaft niemanden mehr gefährden. Bei dieser Arbeit wäre es nicht nur kein Vorteil, sondern sogar ein großes Hindernis, wenn ich persönliche Wutgefühle gegenüber dem Täter empfinden würde.
Wenn ich ein Verbrechen als Gesamtbild betrachte, ist es für mich ein interessantes »Logikrätsel« – wie für andere Sudoku. Als Ergebnis möchte ich verstehen, welche Eigenschaften des Täters, manchmal auch welche Eigenschaften des Opfers und welche Merkmale der Situation in welchem Zusammenhang standen, sodass der Täter diese Tat zum Zeitpunkt X an genau diesem Opfer begangen hat. Würde ich mir zu viele Gedanken um die persönliche Schuld oder das verursachte Leid machen, dann würde mir dieser Beruf nicht nur keinen Spaß machen, sondern ich könnte ihn nach kürzester Zeit nicht mehr ausüben.
Die Frage nach
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