Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
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it der Spitze des Pinsels setzte Mica türkisblaue Glanzlichter in die Kinderaugen auf der Leinwand. Dann trat er zurück und betrachtete sein Werk. Ein Schnurren des Wohlbehagens rollte aus seiner Kehle. Obwohl die Augenfarbe nicht den Tatsachen entsprach, war er zufrieden. Endlich einmal gab es eine Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Enkelkind. Ein kleines Mädchen mit seinen Augen. Celeste fehlten die Fänge ihres vampirischen Großvaters. Sein einziger Trost bestand darin, dass die Kleine bisher auch keine Anzeichen gezeigt hatte, sich in eine Wölfin zu verwandeln. Sie trug durch und durch das Erbe ihrer sterblichen Mutter in sich. Mica würde das Gemälde verstecken müssen, wie so viele andere zuvor, damit ihr Vater es nicht sah. Innerhalb zweier Jahre hatte er eine Galerie aus Porträts und Zeichnungen erschaffen. Etliche Bilder von Marie, der Mutter seiner Tochter Florine, hatten aus seinen unterirdischen Gemächern weichen müssen. Das pompöse Gemälde seiner eigenen Mutter Selene hing nun an der Gabelung der großen Treppe zum Vestibül. Er, der Großmeister der Vampire, war vernarrt in seine Enkeltochter und wollte sein gesamtes Haus mit ihren Bildern schmücken. Ihren Lebensweg auf Leinwand bannen und in Rahmen fassen, vom Kleinkind in der Wiege bis hin zur alten Frau.
Er senkte den Kopf bei dem Gedanken an all die Jahre, die vor ihr lagen und viel zu schnell verfliegen würden. Über Paris erklangen die Glockenspiele der Kirchtürme, als wollten sie ihn mit ihrem Geläut an die Vergänglichkeit gemahnen. Noch während die Glockenklänge in der Nacht verhallten, wusste er, dass jemand in sein Haus eingedrungen war.
Er sah auf. Ungebetene Gäste schlichen durch das Vestibül. Zwei, eventuell auch drei. Ohne Eile säuberte er den Pinsel und legte ihn beiseite. Jetzt hatten sie die Treppe erreicht und wurden von dem Bildnis einer der ältesten lebenden Lamia aufgehalten. Sie mussten jung sein, keiner von ihnen konnte fünfhundert Lebensjahre überschritten haben. Außer der eigenen Mutter waren sie noch keiner Lamia von Angesicht zu Angesicht begegnet. Allein Selenes Konterfei musste bei ihnen zu einer Schreckensstarre führen.
Mica verließ sein Atelier und ging lautlos die Treppe hinab. Da standen sie. Exakt an der Stelle, wo er sie erwartet hatte, vier Stufen unter dem breiten Treppenabsatz. Die drei jungen Vampire begafften die milchweiße Nacktheit seiner Mutter, die einzig von ihrem Kupferhaar bedeckt wurde. Ihn bemerkten sie nicht. Das Licht der Leuchter warf einen rötlichen Schein in ihre Augen, brandmarkte sie zu Geschöpfen der Nacht und gleichzeitig zu Idioten, die gerade begriffen, was ein Betreten seines Hauses nach sich ziehen konnte. Sofern Angriffslust die drei Jäger hergeführt hatte, war sie verflogen. Mica gesellte sich neben das überlebensgroße Gemälde.
„Das ist Selene, eine Lamia aus dem Geschlecht der Babylonier und der Blutlinie der Mechalath. Und meine Mutter.“
Die Pupillen geweitet, schossen ihre Blicke in seine Richtung. Ansonsten bewegten sie sich nicht. Mica sah auf die drei hinab und lächelte. Er kannte jeden von ihnen.
„Was wollt ihr hier?“
Severin fasste sich als Erster und trat eine Stufe höher. Seltener Wagemut, denn er hatte eine Vorliebe für Schlachtfelder, auf denen er das Blut der Verletzten trank. Etwas anderes als diesen kleinen Leichenfledderer hatten die älteren Vampire wohl auf die Schnelle nicht auftreiben können.
„Das alte Volk hat uns zu seinen Botschaftern ernannt, Goldener. In seinem Namen suchen wir dich auf. Sie – wir sind nicht glücklich über dein Verhalten. Seit geraumer Zeit erfüllt uns große Sorge.“
Mica behielt sein großzügiges Lächeln bei. Die Vampire wussten nichts von wahren Sorgen, da er, ihr Großmeister, sie von ihnen fernhielt. „In den vergangenen drei Jahren gab es kein Scharmützel in Paris, keinen Revierkampf, keine Verletzten und keine Toten in unseren Reihen. Worüber solltet ihr euch also sorgen?“
Ihnen von Dank zu sprechen, dass er die geringe Population des alten Volkes der Vampire durch einen Frieden sicherte, wäre vergeblich gewesen. Dankbarkeit war kein Charakterzug seiner Art. Die Vampire befassten sich lieber mit seiner Schande. Er hatte seine sterbliche Tochter an einen Werwolf verloren. Ihm war dieser Verlust mit der Geburt von Celeste vergolten worden. Für sein Volk war es ein Anlass, über die Tragödie eines Kindes zu murren, in dem zur Hälfte das Blut eines Erzfeindes
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