Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
geben: Seit es in Deutschland einfacher ist, sich scheiden zu lassen, und Frauen nach einer Scheidung nicht mehr zwangsläufig vor dem finanziellen Ruin stehen, gibt es weniger Morde an Ehemännern. Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, bedeutet dies: Einige Frauen, die vor fünfzig oder hundert Jahren zu Mörderinnen an ihren Gatten geworden wären, werden es heute nicht mehr. Potenzielle Gattenmörderinnen führen also im Hier und Jetzt ein unauffälliges, langes Leben, nur weil es die gesellschaftlichen Umstände »überflüssig machen«, dass sie einen Mord begehen.
Es hängt aber nicht nur von der Lebensumgebung eines Menschen ab, ob er zum Verbrecher wird, sondern auch von seinen Persönlichkeitsmerkmalen. Sehr spannend dabei ist die Frage, wie viele und welche negativen Merkmale bei einem Menschen zusammenkommen müssen, damit er – unabhängig von seiner Umwelt – zum Verbrecher wird. Es gibt Menschen, die deutlich mehr dieser Eigenschaften haben als die meisten anderen, die also durchaus schwere Straftäter werden könnten – ohne dass dies jemals passieren muss. Obwohl sie den psychopathischen Tätern aus den Massenmedien in einigen Eigenschaften ähnlich sind, leben sie, für ihr Umfeld völlig unauffällig, in unserer Gesellschaft. Sie schaffen es, niemals Taten zu begehen, zu denen sie viel eher als andere im Stande wären.
Das Eis, auf dem diese Menschen sich bewegen, das sie von schweren Straftätern trennt, ist viel dünner als für die meisten anderen Menschen. Was hält sie also davon ab, zu Tätern zu werden? Dieser Frage ging ich nach, als ich mich ausführlich mit einigen solchen Menschen beschäftigte. Sie arbeiteten mit mir, weil sie mehr über sich selbst und ihre »Andersartigkeit« erfahren wollten. Ich bot ihnen an, alles, was sie mir mitteilten, nur anonymisiert zu verwenden und ihnen meine psychologischen Einschätzungen mitzuteilen. Diese »Versuchspersonen« kennen einander nicht und kamen vollkommen unabhängig voneinander in Kontakt mit mir.
In einigen auffälligen Eigenschaften ähneln sie sich, vor allem in solchen, die auch bei kriminellen Psychopathen entsprechend auffällig sind. Doch ich sehe gute Gründe dafür, dass meine Gesprächspartner trotz dieser auffälligen Eigenschaften niemals eine kriminelle Laufbahn einschlagen werden. Welche Eigenschaften machen den feinen, aber entscheidenden Unterschied aus zwischen mittelgradig psychopathischen Menschen, die nie kriminell werden, und kriminellen Psychopathen? Wie dünn ist das Eis, auf dem sich meine Gesprächspartner bewegen, wirklich?
Bevor ich Sie ab dem vierten Kapitel in die Gedankenwelt sowohl krimineller als auch nicht-krimineller psychopathischer Menschen einführe, möchte ich Ihnen vorher noch einige Einblicke in meine Arbeit mit Straftätern geben. Die allermeisten Menschen stellen sich beim Gedanken an Sexual- und Gewaltstraftätern Figuren vor, die Monstern aus gruseligen Märchen ähneln: Düstere Gestalten, die schon als Monster zur Welt kamen, ausschließlich und unveränderlich böse sind und die bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinter einem Busch hervorspringen, um sich auf das nächste Opfer zu stürzen. Dieses Bild ist ebenso fernab der Wirklichkeit wie die Vorstellungen vieler Menschen über das Leben im Gefängnis und Therapien von Straftätern. Im Laufe dieses Buches werden Sie Ihr eigenes Gewissen prüfen können, um herauszufinden, wie schmal in jedem Menschen die Trennlinie zwischen „guten“ und „bösen“ Entscheidungen ist. Fast jeder Mensch, der sich für „gut“ hält, kann mit den richtigen Mitteln dazu bewegt werden, eine sehr „böse“ Entscheidung zu treffen. Umgekehrt können zwar nicht alle, aber viele Menschen, die zutiefst „böse“ Verbrechen begangen haben, lernen, in der Zukunft dauerhaft „gute“ Entscheidungen zu treffen. Dies ist kein naiver Glaube sondern eine wissenschaftlich gut erforschte Tatsache. Damit Sie sich vorstellen können, wie und warum Therapeuten und Gutachter mit Straftätern arbeiten, nehme ich Sie nun mit auf einen kleinen Rundgang durch die echte Arbeitswelt forensischer Psychologen und Psychiater. Eine Welt, von der Sie ansonsten wahrscheinlich nie erfahren würden.
KAPITEL 3
GEFÄHRLICHE DUMMHEIT:
VORURTEILE ÜBER SCHWERE STRAFTATEN, STRAFTÄTERTHERAPIE UND KNASTALLTAG
Was hab ich getan?
Guter Gott, was hab ich getan?
Wurde ein Dieb in der Nacht,
wurde ein räudiges Tier.
Ist für mich alles zu spät?
Hab ich den Teufel im
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