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Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Titel: Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Benecke
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Gerechtigkeit
    Gerechtigkeit, Rache, Sühne: Dies sind Themen, die Menschen im Zusammenhang mit Straftaten stark beschäftigen. Sie wollen glauben, dass es so etwas wie Gerechtigkeit auf irgendeiner Ebene in der Welt gäbe. Ich glaube das schon sehr, sehr lange nicht mehr. Gerechtigkeit würde, kurz gesagt, bedeuten, dass Menschen, die eigentlich gute Menschen sind, davor bewahrt werden sollten, etwas Schlimmes zu erleben. Andererseits sollten Menschen, die etwas Böses tun, dafür eine angemessene Strafe erhalten.
    Nur gibt es, wie Sie inzwischen wissen, meiner Meinung nach noch nicht einmal wirklich »gute« und »böse« Menschen. Menschen und Verbrechen sind oft nicht das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Je näher man sie betrachtet, je mehr man sie in »psychologische Bausteine« aufspaltet, umso mehr verschwimmen Begriffe wie »gut« und »böse«. Am Ende bleibt nur die Erkenntnis, dass Gerechtigkeit in Wirklichkeit ein rares Gut ist.
    Will man die Kausalketten von persönlichem Leid und Unglück, die zu einer Straftat führen, auseinandernehmen, dann stößt man meist auf ein Gewirr aus Ungerechtigkeit, Tragik und traumatischen Ereignissen. Sehr vereinfacht zusammengefasst: Schwere Straftäter, also solche, die Gewalt- und Sexualverbrechen begehen, beginnen ihr Leben in den allermeisten Fällen als Kinder einer kaputten Familie. Sie werden an Körper und/oder Seele verletzt und zerstört. Dadurch entwickeln sie Eigenschaften, die für sie selbst und für ihre Umwelt verhängnisvolle Auswirkungen haben.
    Ich betone auch an dieser Stelle: Es geht hier nicht um »Ausreden« und »Entschuldigungen«. Eine schwierige Kindheit in einem schwierigen Umfeld hatten viele Menschen – ich bin selbst einer davon. Tatsache ist aber: Die meisten schweren Straftäter entwickeln aufgrund ihrer Lebensgeschichte ungünstige Persönlichkeitseigenschaften. Diese Eigenschaften sind meist eine wichtige Ursache für ihre späteren Taten. Doch hätten sie auch mit solchen Eigenschaften in sehr vielen Fällen anders entscheiden können. Dass sie zumindest eine schwerwiegende, falsche Entscheidung trafen, bleibt unbestritten, auch wenn das Leben vorher »ungerecht« zu ihnen war. Unser Justizsystem ist dafür zuständig, dass sie eine Strafe für ihre Schuld abbüßen müssen.
    Doch Gerechtigkeit wird dadurch im Grunde auch nicht hergestellt. Die Bestrafung eines Täters kann das Leid des Opfer, seiner Angehörigen und auch das Leid der Angehörigen des Täters nicht wiedergutmachen. Kurz: Gerechtigkeit ist für mich so wirklich wie Feen und Trolle und die Zaubersprüche eines Harry Potter.

Butterfly-Effect
– Was, wenn du in den Schuhen des anderen gelaufen wärest?
    Je nach Fall gibt es Täter, die aus meiner Sicht mehr oder weniger »Spielraum« in ihrer freien Entscheidung hatten. Sie hätten mit großer Wahrscheinlichkeit nie eine Straftat begangen, wenn bestimmte Umstände ihre Persönlichkeit in eine andere Richtung ausgeformt hätten. Dadurch hätten sie die falsche Entscheidung, die sie getroffen haben, niemals treffen müssen. Sie wären gar nicht in die Situation gekommen, diese Entscheidung zu treffen, oder sie hätten sich anders entscheiden können.
    Vielleicht erscheint das auf den ersten Blick als ziemlich umständlicher und abwegiger Gedankengang. Er wird verständlicher anhand eines ziemlich tragischen Kriminalfalles, mit dem ich noch als Studentin zu tun hatte. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt, im letzten Teil meines Psychologiestudiums, und machte das schon erwähnte Praktikum in einem Gefängnis. Es war das erste Mal, dass ich mit echten Straftätern arbeitete, und es waren direkt die schwersten Kaliber: ausschließlich Sexual- und Gewaltstraftäter.
    Das Erste, was ich dabei über mich lernte: Meine Faszination dafür, was mit diesen Menschen los war, wo sie »kaputt« waren und mit welchen »Werkzeugen« man sie wieder »reparieren« könnte, gab mir bei der Arbeit ein gutes Gefühl. Ich wusste sofort, dass mich die Arbeit weder ängstlich noch traurig oder wütend machte. So etwas weiß man erst sicher, wenn man es ausprobiert. Egal, wie viele Bücher und Filme man vorher zum Thema »konsumiert« hat, die Wirklichkeit ist immer anders.
    Der Fall, der mich am Anfang meiner Arbeit mit Straftätern besonders prägte, war eine dieser Geschichten, bei denen man als Beobachter vor einem Haufen Leid und Ungerechtigkeit steht. Wenn man, wie ich, viele solcher Geschichten in seinem Leben mitbekommt,

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