Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Therapeut in die vielen Informationen ein, die er bereits über den Fall hat.
3. Tabellen und Testverfahren
Über Aktenstudium und persönliche Gespräche hinaus sind wissenschaftlich gesicherte Testverfahren unerlässliche Informationsquellen. Mit diesen Mitteln können forensische Gutachter und Therapeuten ziemlich genau eingrenzen, wie wahrscheinlich der Rückfall eines Straftäters ist. Seit vielen Jahrzehnten forscht die Wissenschaft intensiv am Thema »Rückfall-Risiko von Straftätern«. Daher gibt es inzwischen unter anderem für ganz unterschiedliche Sexual- und Gewaltstraftaten spezielle »Rückfall-Wahrscheinlichkeits-Tabellen« und »Risiko-Bestimmungs-Testverfahren«.
Die Tabellen geben Auskunft über die Rückfallquoten, die je nach Straftat sehr unterschiedlich sind. Jede Straftat hat ihre eigene »Basis-Rate der Rückfälligkeit«, wie dieser Wert von Experten genannt wird. Ich gebe Ihnen einige Beispiele:
20 bis 30 % der Straftäter, die eine Körperverletzung begehen, tun dies später wieder. Exhibitionisten – also Menschen, die ihre Genitalien in der Öffentlichkeit vor Fremden zur Schau stellen – sind die am häufigsten rückfälligen Sexualstraftäter. Zwischen 30 und 80 % von ihnen hören auch nach einer Verurteilung nicht damit auf. Deshalb kommen exhibitionistische Wiederholungstäter auch in Sicherungsverwahrung. Tötungsdelikte haben dagegen von allen Straftaten die niedrigste Rückfall-Wahrscheinlichkeit: Höchstens 6 % der Straftäter, die wegen Mord oder Totschlag verurteilt werden, begehen so eine Tat nochmals.
Mithilfe dieses Wissens kann ein Experte zunächst grundsätzlich sagen: Gehört der Täter, den ich mir genauer anschaue, zu einer Straftätergruppe mit eher niedriger, mittelmäßiger oder hoher Rückfall-Wahrscheinlichkeit?
Darüber hinaus müssen alle bisher gesammelten Informationen über den jeweiligen Täter über geeignete Testverfahren bewertet werden. Es gibt mittlerweile einige solcher gut funktionierender, wissenschaftlich überprüfter Testverfahren, mit deren Hilfe forensische Psychologen und Psychiater die Rückfall-Wahrscheinlichkeit eines Täters einschätzen können.
Ein Testverfahren, das auf der ganzen Welt vor allem bei Gewalt- und Sexualstraftätern häufig benutzt wird, ist die bereits erwähnte »Psychopathie-Checkliste« von Robert Hare. Über sie wird bestimmt, ob und, wenn ja, wie stark psychopathisch ein Straftäter ist. Je stärker psychopathisch er ist, desto größer ist auch sein Risiko, rückfällig zu werden.
Die Rückfall-Wahrscheinlichkeit männlicher Sexualstraftäter ab dem achtzehnten Lebensjahr ermitteln forensische Psychiater und Psychologen unter anderem auch mithilfe des »Static-99«-Testverfahrens. Es wird vor allem in den USA häufig benutzt. Zehn Merkmale des Straftäters werden dabei mit Punkten bewertet. Zu diesen Merkmalen gehört beispielsweise, ob er vorbestraft ist, ob er schon früher Sexualstraftaten begangen hat (und falls ja, welche), ob er dazu neigt, gewalttätig zu werden, und ob er sich fremde Opfer gesucht hat.
Aus der Gesamtpunktzahl des Täters wird mithilfe einer zum Test gehörigen Tabelle abgeleitet, wie groß das Rückfall-Risiko in Prozent ist, bzw. ob es als »gering«, »eher gering«, »eher hoch« oder »hoch« anzusehen ist.
Wenn der forensische Psychologe oder Psychiater einschätzt, wie gefährlich ein Straftäter ist, berücksichtigt er all diese Informationen – Akten, Gespräche, Tabellen und Testverfahren. Er trifft seine Entscheidung, ob ein Rückfall eher wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist, also nicht – wie viele Menschen leider bis heute glauben – aus dem Bauch heraus.
Die Rückfall-Wahrscheinlichkeit und ihre Auswirkungen
Nicht nur für die Entscheidung, ob ein Straftäter nach der Haft in »Sicherungsverwahrung« kommt, ist die Einschätzung seiner Rückfall-Wahrscheinlichkeit sehr wichtig. (Wird ein Straftäter dauerhaft als stark rückfallgefährdet eingestuft, kann dies bewirken, dass er in Sicherungsverwahrung kommt, d.h. er bleibt gegebenenfalls für den Rest seines Lebens eingesperrt. Dies ist für die insgesamt kleine Gruppe von Straftätern, die bis heute als »untherapierbar« gelten, auch notwendig.)
Doch bei sehr vielen Straftätern kann die Rückfall-Wahrscheinlichkeit durch Therapie-Programme deutlich gesenkt werden. Voraussetzung ist, dass ein Straftäter das Therapieangebot wirklich nutzt, also lange, aktiv und offen an sich arbeitet. Tut er dies nicht,
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