Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
angeordnet, wie der Straftäter weiter als stark rückfallgefährdet eingeschätzt wird. Dabei muss bei einem Rückfall die Gefahr bestehen, dass er anderen Menschen körperlich oder seelisch schwer schaden würde. Ob er weiter gefährlich ist, wird alle zwei Jahre von forensischen Gutachtern geprüft. Grundsätzlich kann ein Straftäter bis zu seinem Lebensende in Sicherungsverwahrung bleiben.
Forensische Gutachter und Therapeuten entscheiden auch darüber, ob ein Straftäter eine Therapie bekommen soll und, wenn ja, was für eine. Auch diese Entscheidungen hängen stark von der Psychopathie-Ausprägung des Täters ab. Lange Zeit galten »voll ausgeprägte« Psychopathen als untherapierbar. Erst seit wenigen Jahren werden moderne Therapieprogramme speziell für psychopathische Straftäter entwickelt und getestet. In diesem Bereich werden Forscher noch sehr lange sehr viel zu tun haben.
Der Schaden, den psychopathische Straftäter anrichten, ist mithilfe der Psychopathie-Checkliste schon deutlich eingedämmt worden. Viele gefährliche psychopathische Straftäter wie Rodney Alcala werden heutzutage sehr viel schneller dauerhaft inhaftiert. Noch mehr würde es allerdings bringen, Psychopathen schon als Kinder und Jugendliche gezielt zu therapieren, bevor aus ihnen schwere Straftäter werden. Damit entsprechend gefährdete Kinder rechtzeitig erkannt und mit den richtigen Methoden behandelt werden können, wird noch sehr viel Forschung notwendig sein.
Psychopathen – Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen
Robert Hares Entscheidung, dass ein Mensch mindestens 75 % psychopathischer Eigenschaften haben muss, um als voll ausgeprägter Psychopath zu gelten, hängt auch damit zusammen, wie stark die Psychopathie-Werte in der Gesamtbevölkerung ausgeprägt sind. In Nordamerika, wo Robert Hare seine Checkliste entwickelte, haben die meisten Männer weniger als 10 % psychopathischer Eigenschaften. Bei den meisten europäischen Männern liegt dieser Wert noch niedriger. Deshalb betrachten manche Experten einen Europäer, der 70 % psychopathische Eigenschaften hat, schon als voll ausgeprägten Psychopathen.
Egal ob man Hares »75-%-Regel« anwendet oder die an Europäer angepasste »70-%-Regel«, es drängt sich die Frage auf: Was ist mit Menschen, die deutlich mehr psychopathische Eigenschaften haben als die meisten anderen, aber immer noch weniger als »vollwertige« Psychopathen?
Auf diese Frage hatte Dr. J. Reid Meloy, forensischer Psychologe und Professor für Psychiatrie an der Universität von Kalifornien, eine Antwort. In seinem 1988 erschienenen Buch »Der psychopathische Verstand: Ursprünge, Dynamik und Behandlung« (Originaltitel: »The Psychopathic Mind: Origins, Dynamics, and Treatment«) teilt er psychopathische Menschen mithilfe der Psychopathie-Checkliste von Hare in drei Gruppen ein:
Menschen mit einem Psychopathie-Wert zwischen 25 und 47,5 % – also mit 10 bis 19 Punkten auf der Psychopathie-Checkliste – sind Meloy zufolge »leicht psychopathisch gestört«. Solche mit Psychopathie-Werten zwischen 50 und 72,5 % – was 20 bis 29 Punkten entspricht – schätzt Meloy als »mittelgradig psychopathisch gestört« ein. Jene, die mit 30 Punkten und mehr den von Hare festgelegten Psychopathie-Wert von mindestens 75 % erreichen, nennt Meloy »stark psychopathisch gestört«.
Bis vor kurzem war völlig unbekannt, wie viele Menschen außerhalb von Gefängnissen überdurchschnittlich starke psychopathische Eigenschaften haben. Sicher war nur: Es gibt sie. Aber viele von ihnen begehen keine oder nur geringfügige Straftaten und leben daher völlig unbemerkt unter uns.
Eine Forschergruppe der »Forensisch-psychiatrischen Forschungseinheit« des »St. Bartholomew’s Hospital« in London ging 2009, unterstützt von Robert Hare, der Frage nach, wie viele Menschen in der Allgemeinbevölkerung mittelgradig bis stark psychopathisch gestört sind. Die Wissenschaftler untersuchten 638 Bürger aus England, Wales und Schottland, zwischen 16 und 74 Jahren. Dabei wurden alle als psychopathisch eingestuft, die mehr als 50 % psychopathischer Eigenschaften hatten. Dieser Untersuchung zufolge sind etwa 0,6 % der Menschen in der Allgemeinbevölkerung, also ungefähr jeder zweihundertste Mensch, psychopathisch.
Was psychopathische Menschen von normalen Menschen unterscheidet, sind viele kleine »Charakter-Bausteine«. Die insgesamt zwanzig Bausteine, aus denen Robert Hare seine Checkliste zusammengestellt hat, gruppieren sich in
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