Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
der Psychopath doch einmal einer Lüge überführt, so wahrt er auch dann die Fassung und erfindet, ohne zu zögern, eine Ausrede.
Dorian, einer meiner mittelgradig psychopathischen Interviewpartner, berichtete mir, wie er einst von seiner festen Partnerin beim Fremdgehen erwischt worden ist. Er versicherte ihr glaubhaft, mit einem tiefen Blick in die Augen, dass ihm nicht klar gewesen sei, wie sehr er sie damit verletzen würde. Dies war, wie er offen zugab, eine dreiste Lüge. Ähnlich überzeugend gelang es ihm, Schuldgefühle vorzutäuschen, die er gar nicht hatte. Unter anderem beteuerte er, dass es ihn schwer belaste, wie sehr er seine Partnerin verletzt habe. Alleine deshalb würde er so etwas nie wieder tun. Fast überflüssig zu erwähnen, dass er seine Einstellung und sein Verhalten natürlich nicht änderte. Dorians umfangreiche Darstellung dieser Situation werde ich hier nicht weiter schildern, da seine Täuschungsmanöver sehr geschickt waren und ich Menschen in ähnlichen Situationen keine Ausreden liefern möchte. Wie schnell und glaubhaft er es schaffte, tief empfundene Gefühle und Einsichten vorzuspielen, die ihm in Wirklichkeit vollkommen fremd waren, beeindruckte mich jedenfalls.
4. Beeinflussen und Betrügen
– Der Puppenspieler
Psychopathen sind erstaunlich begabt darin, andere Menschen wie Marionetten zu beeinflussen, um ihre Ziele zu erreichen. Dabei ist ihnen völlig egal, welche Schäden sie anrichten. Einige schaffen es, dabei nie kriminell zu werden. Ohne eine Straftat begehen zu müssen, nehmen sie Menschen so erfolgreich für sich ein, dass diese ihnen über eine erstaunlich lange Zeit Geld, Sex und andere Dinge liefern, ohne jemals eine angemessene Gegenleistung – welcher Art auch immer – zu erhalten.
Kriminelle Psychopathen schrecken jedoch auch nicht vor Betrugsdelikten zurück. Einige beuten ihre Verwandten aus oder verwickeln diese unschuldig in kriminelle Aktivitäten. Ein Beispiel hierfür ist die Mutter einer jungen Frau, die das Gespräch mit mir suchte. Diese Mutter erfüllt genug Merkmale, um als stark ausgeprägte Psychopathin eingestuft zu werden. Sie beeinflusste ihr Leben lang alle Menschen in ihrem Umfeld – sowohl Partner als auch Familienangehörige – erfolgreich und beutete sie vor allem finanziell aus. Ihre Kinder misshandelte und vernachlässigte sie seelisch und körperlich. Als die ältesten geschäftsfähig wurden, begann sie massenhaft Dinge zu bestellen und Verträge abzuschließen, indem sie deren Unterschriften fälschte. Damit die Kinder sie nicht anzeigten, beeinflusste und erpresste sie diese geschickt. Sehr lange kam sie mit dieser Vorgehensweise durch.
Verblichene Schwarz-Weiß-Fotografie einer bunten Welt – Wie und was der Psychopath fühlt
5. Schuldgefühl, was ist das?
– Der Gewissenlose
Wenn der Psychopath andere Menschen mit seinem Verhalten verletzt, ihnen schadet oder das Gesetz bricht, sieht er seine Schuld nicht wirklich ein. Immer sind die Umstände, andere Menschen, der Zufall oder die Ungerechtigkeit der Welt schuld an dem, was in seinem Leben schiefläuft – er sieht sich nur als Opfer. Die Menschen, die er schädigt, haben es sich aus Sicht des Psychopathen selbst eingebrockt, oder er verharmlost das, was sie durch ihn erlitten. Wenn es ihm einen Vorteil bringt, entschuldigt er sich. Er meint das aber nicht ernst und ändert daher auch nichts an seinem Verhalten.
Die Art, wie mein Interviewpartner Christian mit Unehrlichkeit und Untreue umgeht, ist typisch psychopathisch. Ich fragte ihn, ob er jemals Schuldgefühle empfindet, wenn er erlebt, dass eine Partnerin wegen seines Verhaltens verletzt ist. Seine Antwort: »Ich bin dann eher traurig darüber, dass sie nicht mit mir klarkommt, wie ich bin. Es macht mich nicht traurig, dass mein Verhalten sie traurig macht. Der Fehler liegt ja nicht bei mir, sondern bei ihr. Sie kommt schließlich damit, wie ich bin, nicht zurecht.«
6. Fühlen wird überbewertet
– Der Gefühlsblinde
So wie manche Menschen farbenblind sind, sind Psychopathen annähernd »gefühlsblind«. Sie wissen, dass andere Menschen ganz selbstverständlich sehr verschiedene Gefühle erleben, in ganz verschiedener Intensität. Außerdem wissen sie, in welchen Situationen andere normalerweise welche Gefühle empfinden und welche Begriffe es dafür gibt. Es ist nicht so, als würden Psychopathen überhaupt nichts fühlen, aber ihre »Gefühlspalette« ist schmaler und viel schwächer ausgeprägt. Weil ihre
Weitere Kostenlose Bücher