Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Gesichtsausdruck zu machen. So schauen sie – wie mein Interviewpartner Alexander beschreibt – beispielsweise traurig bei einer Beerdigung, auch wenn sie nichts fühlen. Ein anderer meiner Interviewpartner kam auf die Idee, sich bei Begräbnissen notfalls die Salbe »Wick VapoRub« in Augennähe zu schmieren, um die Tränen zum Fließen zu bringen.
Bei einem der Gespräche mit Christian – als wir uns schon länger kannten – hatte ich den Eindruck, er sei traurig, obwohl er wie sonst lachte und scheinbar guter Laune war. Eine für ihn untypische Emotion. Als ich ihn darauf ansprach, zeigte er sich sehr überrascht: »Woran erkennst du das?«
Ich sagte, dass ich es am Ausdruck seiner Augen sehen könne. Das ist keine besondere Gabe, sondern eine Frage der Erfahrung. Seit vielen Jahren habe ich oft mit Menschen zu tun, die ungewöhnlich schwache Gefühle haben. Dadurch habe ich mir angewöhnt, sie besonders genau zu beobachten. Wenn ich öfter mit jemandem wie Christian spreche, entdecke ich daher manchmal Stimmungen, die andere nicht mitbekommen.
Christian erzählte dann: »Vor einigen Jahren war ich einmal über mehrere Wochen für meine Verhältnisse wirklich traurig. Das haben meine Arbeitskollegen und selbst gute Freunde von mir nicht gemerkt. Heute bin ich im Vergleich dazu deutlich weniger traurig. Interessant, dass dir das trotzdem auffällt.«
Da psychopathische Menschen sich angewöhnen müssen, die passenden emotionalen Gesichtsausdrücke zur jeweiligen Situation zu machen, entwickeln sie dafür unterschiedliche Vorgehensweisen. Alexander wirkt oft sehr sachlich. Er erklärt, dass er ein eher nachdenklicher und ernster Typ ist. Damit geben sich die meisten zufrieden.
Menschen, die wenig empfinden, lernen früh, in den richtigen Situationen zu lächeln, um mit anderen Menschen unauffällig zusammenzuleben. Alexander berichtete mir, wie er sich in einer Szene der US-amerikanischen Fernsehserie »Dexter« wiedererkannte. Die Titelfigur der Serie ist ein psychopathischer Serienmörder. Er fühlt schon als Kind nichts, versteht die anderen Menschen nicht und hat Lust zu töten. Sein Adoptivvater Harry ist Polizist; er bemerkt früh, was mit Dexter los ist, und bringt ihm bei, wie er ein »guter Psychopath« werden kann. Dexter soll nur Menschen töten, die es aus Sicht des Adoptivvaters verdient haben – Mörder. Daran hält sich Dexter, der als Spurensachverständiger für die Polizei arbeitet.
Die Szene, in der Alexander sich wiedererkannte, ist eine Rückblende in Dexters Kindheit: Sein Adoptivvater erklärt ihm, dass er auf Familienfotos lächeln soll, auch wenn er dabei nichts empfindet. Das mache man so, damit die anderen Familienmitglieder sich über die schöne Erinnerung freuen. Auch Alexander nutzt wie jeder Mensch, der wenig fühlt, aber seine Mitmenschen für sich gewinnen will, das gezielte Lächeln im richtigen Moment.
Bei Christian ist das »Lächeln, um andere für sich zu gewinnen« besonders ausgeprägt. Er lächelt die meiste Zeit, womit er auf normale Menschen einen besonders fröhlichen und freundlichen Eindruck macht. Außerdem spricht er fast immer leise und mit ruhiger, freundlicher Stimme. Diese Maske ist so perfekt, dass andere meist tatsächlich nicht durchschauen, was wirklich in ihm vorgeht und wann sich seine Stimmung ändert. Es gelingt ihm damit, auch fremde Menschen zu seinem Vorteil zu beeinflussen.
Bei unseren Gesprächen erzählte er mit ebendieser ruhigen, freundlichen Stimme und dem gezielten Lächeln manchmal keineswegs nette Dinge. Er hat – wie viele psychopathische Menschen – sehr ausführliche, bösartige und gewalttätige Phantasien, was er Personen antun könnte, die er nicht mag. Dabei sagt er – was ebenfalls sehr typisch für nicht-kriminelle Psychopathen ist –, dass nicht ein schlechtes Gewissen ihn davon abhält, diese Ideen in die Tat umzusetzen, sondern hauptsächlich die Befürchtung, dafür bestraft zu werden: »Diese Leute sind es nicht wert, dafür ins Gefängnis zu gehen.«
Das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihm und stark ausgeprägten kriminellen Psychopathen: Diese lernen nicht aus Strafen und fürchten sich nicht wirklich davor. Ich traue Christian – ebenso wie meinen anderen psychopathischen Interviewpartnern – zu, dass er Menschen, die ihn wütend machen und die er nicht mag, schaden würde, wenn er keine Strafe fürchten müsste. Gewissensbisse hätte er deshalb nicht.
Menschen, die er nicht mag, verunsichert
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