Auf Dünnem Eis (T-FLAC) (German Edition)
abzusagen, es war besser so. Ein sauberer Schnitt war leichter zu nähen und verheilte besser.
Am besten, sie kehrte so schnell wie möglich zum normalen Leben zurück. Vielleicht fühlte es sich eines Tages nicht mehr sonderbar an. Vielleicht würden andere Erinnerungen die Erinnerung an dieses Iditarod verdrängen.
Es war besser, mit dem zufrieden zu sein, was man hatte, als zu vermissen, was man nicht hatte. Aber, o Gott, sie vermisste Derek.
Lily zog mit beiden Händen an der Stalltür. Die Tür war versperrt. »Joe!« Sie pochte ein paarmal an die Tür. Keine Antwort. Sie stellte den Kragen hoch, lief an die andere Seite des enormen Baus und wünschte, sie hätte ihre Taschenlampe aus dem Handschuhfach mitgenommen.
In ein paar Tagen würde die Hochzeit von Dereks Vater stattfinden. Es wäre unhöflich gewesen, nicht hinzugehen. Aber sie würde dafür sorgen, dass sie nicht zu nah bei Derek stand. Ihm nicht in die Augen sah. Nicht seinen Ich-erkennedich-im-Dunkeln-Duft roch. Sie würde ihm zuhören, wenn er sprach, aber nicht auf sein Timbre lauschen. Und sie würde ihn nicht anfassen. Unter keinen Umständen. Lily schwor sich, dass sie ihn absolut und definitiv nicht anfassen würde. Sie durfte ihm nicht zu nahe kommen, denn eine Berührung reichte, sie wie Schnee in der Mikrowelle schmelzen zu lassen. Und nach der Hochzeit? Sie war sich nicht sicher.
So vieles war in letzter Zeit geschehen. Sogar das Rennen war anders gewesen als sonst. Es fühlte sich sonderbar an, es nicht zu Ende gefahren zu haben. Sonderbar, in der falschen Richtung durch Nome zu fahren und im Rückspiegel die Menge zu sehen, die auf das erste Gespann wartete.
Dennoch war die Reise atemberaubend aufregend gewesen. Derek hatte sie geküsst. Derek hatte mit ihr geschlafen. Derek hatte sich einen Schlafsack mit ihr geteilt. Sie hatte Meile für Meile seine Stimme im Ohr gehabt. Eine Bombe zu entschärfen und ein Flugzeug zu landen war nur noch das Sahnehäubchen gewesen. Die Zeit mit Derek hatte sie etwas gelehrt. Nicht nur, dass sie ihn liebte, womit sie wirklich nicht gerechnet hatte, sondern dass sie furchtloser war, als sie es sich je hatte vorstellen können.
Sie hatte eine Bombe entschärft.
Sie hatte ein Flugzeug gelandet.
Und sie hatte sich in einen Mann verliebt, der ihr das Herz brechen konnte, ohne es überhaupt darauf anzulegen.
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, während sie das große Stalltor aufzog und nach drinnen schlüpfte. Sie sog den vertrauten Duft ein, der sie niemals enttäuschte. Tiere und Stroh. Das war es, was sie vermisst hätte, hätte sie Montana verlassen. Sie machte eine Arbeit, die sie liebte, was mehr war, als die meisten Leute von sich sagen konnten. Sicher, beruhigte sie ihr wehes Herz, würde das eines Tages genug sein.
Sie zog Jacke, Mütze und Schal aus und rief: »Joe? Ich bin da! Die Vordertür ist zugesperrt.«
»Hier hinten«, rief er und hörte sich besorgt an.
Lily beschleunigte die Schritte, und ihre Stiefel raschelten über das Stroh, während sie seiner Stimme in den hinteren Teil des Stalls folgte. »Was ist los? - Don?«
Sie sprach Joe schlicht deshalb an, weil er der Einzige war, den sie kannte. Lily sah sich verständnislos um. Im Augenwinkel entdeckte sie Joe, der an der hinteren Wand bäuchlings auf dem Boden lag. Tot oder lebendig? Er hatte jedenfalls nicht nach ihr gerufen. »Lauf, um Himmels willen!«, schrie Don, und wand sich im Griff eines Mannes, der so groß wie ein Sumo-Ringer war.
Der Stall war voller Männer. »Was in aller Welt …« Ihre Worte endeten in einem Schrei, als ein fleischiger Arm, der aus dem Nirgendwo kam, sich von hinten um ihre Kehle legte und sie halb von den Füßen zog.
Der Arm zog fester zu, und Lily prallte hart an den Mann hinter ihr. Sie gab einen katzenhaften Laut von sich und packte den fleischigen Unterarm mit beiden Händen, versuchte, ihn wegzureißen. Doch anstatt locker zu lassen, packte der Kerl sie noch fester und schnitt ihr die Luft ab.
Ein anderer Mann trat aus den Schatten. »Lass der lieben Frau Doktor ein bisschen mehr Luft, Serg.« Der Arm lockerte sich, und Lily schnappte schwindlig nach Sauerstoff. »Guten Abend, Dr. Munroe.«
Sie hatte keine Ahnung, wer er war. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Er war mittelgroß, breit gebaut und hatte einen osteuropäischen Akzent. Und was am wichtigsten war: Er hatte eine Pistole. Eine große Pistole, die direkt auf sie zielte.
Lilys Blut stockte. Gott, das Ding sah von
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