Auf einmal ist Hoffnung
griffbereit.
Während der Fahrt zur Tenth Avenue blätterte sie die Zeitung oberflächlich durch. Die Dance Connection, die gerade ihre Tournee durch Europa beendet hatte, suchte neue Tänzer. Ein Dinner-Theatre in Elmsford begann mit den Proben zu ›Funny Girl‹. Eine Theatrical School suchte eine junge Tanzlehrerin, die Ballett, Tap und Jazz beherrschte.
Nein, das alles wäre nichts für sie gewesen, dachte sie erleichtert und war um so stärker entschlossen, heute ihre Chance zu nützen und sich auch nicht von Igor davon abbringen zu lassen. Die Chiarina in ›Le Carnaval‹ war einfach ihr Traumpart. Sie beherrschte die Rolle wie im Schlaf. Warum also sollte sie die Konkurrenz nicht ausstechen? Bei Igor war sie in der New Broadway Dance Company durch eine wirklich harte Schule gegangen und schon seit langer Zeit bereit, eine Rolle der Leland oder der Sarry zu übernehmen, beim New York City Ballett und auch bei der Metropolitan. Sie war sich ihres Könnens sicher.
Unwillkürlich dachte sie an ihren Vater, der schweren Herzens zugestimmt hatte, daß sie Tänzerin wurde. Er war der beste Vater, den sie sich vorstellen konnte, gütig und warmherzig, hilfsbereit und geduldig, daß sie oftmals geradezu beschämt war. Er liebte sie abgöttisch, obwohl er es ihr nie mit Worten gesagt hatte. Er rieb sich für sie regelrecht auf, um sie vergessen zu lassen, daß sie ihr Leben lang keine Mutterliebe bekommen hatte.
Vorhin aber hatte sie an ihm zum ersten Mal eine Veränderung bemerkt. Als er ihr am Telefon mitteilte, daß er dringend nach Texas müsse, hatte seine Stimme gezittert. So als ob ihn die Reise stark bewege. Nie zuvor hatte sie ihn so erlebt. Er war ihr gegenüber stets der Starke gewesen, der Zuversichtliche, für den es keine wirklichen Probleme gab.
Schon als Kind jedoch hatte sie einen untrüglichen Instinkt dafür gehabt, daß diese Zuversicht manchmal nur gespielt war. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte es für ihn keine andere Frau mehr gegeben. Das waren immerhin mehr als zweiundzwanzig Jahre. Aber er hatte sich nie anmerken lassen, wie es in ihm wirklich aussah.
Bis vorhin …
Da hatte sie ihn dann sogar gefragt: »Steht viel Geld auf dem Spiel?«
»Nicht Geld«, war er einer direkten Antwort ausgewichen.
»Du klingst heute so anders«, hatte sie ihm auf den Kopf zugesagt.
»Wirke ich so?« Seine Entgegnung war unsicher gekommen.
»Willst du es mir nicht sagen?«
»Was?«
»Worum es geht?«
»Ich treffe einen alten Freund«, war seine ungewöhnlich knappe Auskunft gewesen, und als Jennifer nicht reagierte, hatte er gewollt optimistisch hinzugesetzt: »Sobald ich Näheres weiß, rufe ich dich an.« Dann hatte er das Gespräch beendet.
Es war das erste Mal gewesen, daß er sie über eine Reise nur ungenau informiert hatte.
Der Bus kam, und das Kreischen der Bremsen riß sie aus ihren Gedanken. Sie stieg ein.
Die Zweiundvierzigste. Der Bus hielt neben Ted's Bar. Beinahe alle Fahrgäste stiegen aus und etwa ebenso viele neue wieder ein.
Sie stand am Bordstein und wartete darauf, daß die Ampel auf WALK umschaltete und sie die Straße überqueren durfte.
An ihren Vater dachte sie jetzt nicht mehr. Ihr Blick fiel auf das heruntergekommene ›Elkwood‹, das abgerissen werden sollte, und auf die schmutzigrote Backsteinfassade der ›Fabrik‹, wie sie das seit Jahren leerstehende, vierstöckige Haus mit den vielen Fensterhöhlen nannten, in dem jetzt lediglich das Studio der New Broadway Dance Company untergebracht war. Sie fühlte sich hier zu Hause.
Die schmale schwarze Tür. Das düstere Entree. Die steile, knarzende Treppe nach oben. Die halbverglaste, alte Schwingtür, hinter der das Leben begann.
»Hi, Jenny!« schallte es durch den schwach erleuchteten Flur, auf dem rege Betriebsamkeit und lautes Stimmengewirr herrschten.
»Hi«, erwiderte sie, und eine Kollegin rief ihr im Vorbeigehen zu: »Igor erwartet dich schon.«
Igor Negolescu war der Ballettmeister der Company. Er vereinigte in sich zwei Temperamente: den unerbittlichen Arbeiter und den väterlichen Freund.
Jennifer ging mit festen Schritten auf das immer offene Büro zu. Es war ein enger Raum, dessen vergittertes Fenster auf einen dunklen Lichtschacht hinausführte, so daß man ständig auf die kühle, trübe Neonbeleuchtung als Lichtquelle angewiesen war. In der Mitte stand ein Tisch, immer vollgestellt mit einer Unmenge von Utensilien wie Bandagen, Flaschen aller Art, benützten Kaffeetassen, Bergen von Schallplatten,
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