Auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
der Klaviatur unserer Geschichte.
Alle vier Wege durch Frankreich
haben wir wenigstens gestreift, auf allen haben wir Wichtiges gesehen und
erlebt. Da ist es dann ein frohes Aufatmen, als wir am sechsten Tag unserer
Reise nach Puente la Reina kommen, der großen Sammelstation aller
Santiago-Pilger. Wir gehen über die berühmte Brücke aus dem 11. Jahrhundert,
die den Arga-Fluß überquert. Doña Mayor, die Gemahlin des Königs Sancho Garcés
III., hat sie bauen lassen, daher heißt sie „Puente la Reina“, Brücke der
Königin. Was muß hier während der Pilgerströme los gewesen sein, als in den
großen Zeiten der Jakobsfahrt jährlich 200 000 Pilger den „camino de Santiago“
gegangen sind...
Jetzt folgen in westlicher
Richtung die großen Kathedralstädte: Burgos und León. Burgos, der Platz mit der
überbordenden Spätgotik seiner Kirchenstadt; León, die alte Römersiedlung mit
der edlen frühgotischen Kathedrale. Chartres, Reims, Amiens sind hier zu
spüren, bis hin zu den mehr als 200 herrlichen Maßwerkfenstern in unglaublich
leuchtenden Farben.
Zwischen diesen Höhepunkten
erleben wir zahlreiche Kostbarkeiten. Sie sind wie kleine Edelsteine in einer
Krone, manchmal verdeckt, verborgen zwischen den großen Steinen, aber doch
unentbehrlich im Zusammenhang. Was sollten wir denn auch mit lauter
Höhepunkten?
So kommen wir von Puente la
Reina nach Eunate, einem Oktogon im Kornfeld. Der Rundbau ist romanisch und
stammt aus dem 12. Jahrhundert. Eine Bogengalerie ohne Dach umläuft ihn. Wir
fragen uns nach der Funktion eines Kirchenbaus, der völlig zweckfrei in das
menschenleere Umfeld gestellt wurde, umgeben nur von Vögeln, Bienen, Blumen,
Getreide, Sonne, Luft... Wir ahnen, daß
Gotteslob nicht nur „pastoral“
orientiert sein muß, daß es nicht nur auf Menschen und die Sorge um ihr ganz
spezielles Seelenheil zu zielen hat, sondern daß es sich verschwenden kann ins
Zwecklose, besser: daß es sich ganz direkt an Gott selbst wenden darf, einfach
nur so: Gott, Du. — Das ist die Botschaft von Eunate. Wir vernehmen sie
in Spanien noch mehrmals, öfter als anderswo. Trotz aller Ferne vom Zweck ist
die Tageswirklichkeit sehr nah. Und in dieser Tageswirklichkeit, um sie wissend
und mit ihr ringend, weiht man sich Gott.
In Estella, am Ufer des Rio
Ega, sehen wir herrliche Portalplastiken in der Kirche von San Miguel: Christus
mit den Symbolen der Evangelisten; besonders schön: die Frauen am Grab des
Herrn. Auch sie sind im 12. Jahrhundert entstanden, der „hohen Zeit’’ der
Jakobus-Wallfahrt. — Die Impulse dieser Pilgerbewegung auf das geistliche,
geistige und kulturelle Leben des Mittelalters sind sehr groß.
In Torres del Rio begegnen wir
wieder einem Oktogon. Es wurde von den Templern errichtet, als Kirche vom
Heiligen Grab. In drei Stockwerken erhebt sich die Kirche bis hoch hinauf in
eine Dachkonstruktion mit einem mozarabischen Gewölbe, das in seiner Mitte
einen Stern bildet. Hier sollten wir schon eine erste Andeutung über das für
Spanien typische Miteinander islamischer und christlicher Geistigkeit und ihre
Ausprägung in kultureller Partnerschaft machen. Kunstgeschichtlich gesehen gab
es keine kulturelle Begegnung von größerer Fruchtbarkeit als die zwischen Islam
und Christentum. Aus theologischer Sicht sind die Verbindungen zwischen
Judentum und Christentum wohl sehr viel enger. Aber die Wechselwirkung der
ästhetischen Formen ist in Spanien zwischen Islam und Christentum eine Symbiose
eingegangen, die ihresgleichen sucht.
Mozarabisch — was bedeutet das?
Meyers „Großes Lexikon“: „Mozarabischer Stil, kunstwissenschaftliche
Bezeichnung einer im 11. und 12. Jahrhundert in den ehemaligen arabischen
Gebieten... Spaniens zu beobachtenden Tendenz der Durchdringung maurischer mit
romanischen Elementen.. ., u.a. auf dem Gebiet der Architektur unter
Ornamentalisierung des Formenrepertoires.“ 3
Das meint folgendes: Unter den
Mauren können die Christen ungehindert schaffen und lernen. Sie dürfen und
sollen sich einbringen in maurische, islamische Geistigkeit und Ästhetik.
Und es gibt auch die umgekehrte
Richtung: Unter den Christen sind Mauren gefragte Künstler und Baumeister,
wichtige Mitgestalter der christlichen Formen- und Geisteswelt. Auf diese Weise
entsteht der Mudéjar-Stil, dessen Blütezeit im 14. und 15. Jahrhundert liegt.
Wir werden ihm noch vielmals auf der Reise begegnen. Maurisches und romanisches
oder — vor allem — gotisches Formengut treffen aufeinander.
Weitere Kostenlose Bücher