Auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
ihn heute nicht mehr in diesem wundervollen Zustand, wenn
ihm durch die Barockzeit mit ihrer neuen Fassade nicht der Vorraum gegeben
worden wäre, aus dem wir nun die Skulpturen geschützt betrachten können.
Wichtigste Figur des Portico de la Gloria ist der Apostel Jakobus. Alle Mühe
der Wallfahrt findet hier ihre Vollendung. Jakobus begrüßt seine Pilger,
sammelt ihre Mühen ein, übergibt sie dem Herrn.
Jakobus ist zentraler Mittler,
selbstbewußt, seiner Sache sicher. Seine Sache: das ist der Herr, der Richter,
seine Gnade, sein Verzeihen, seine Größe. All das geht weit hinaus über das
fast gnadenlose Gericht des Tympanons von Conques, das wir am Anfang unseres
Weges sahen. Dieser Gegensatz, diese geistige Brücke beherrscht unsere Reise.
Das „Gericht“ in Conques
verdammt alle, die in Sünde sind. Das Figurenbild des Portico de la Gloria
zeigt Erlösung und Vergebung. Es muß für die Pilger wie eine Befreiung gewesen
sein, nach allen Strapazen, nach allen strengen Ermahnungen der Bilderwelt des
Pilgerweges nun hier in Santiago dem verzeihenden Erlöser zu begegnen! — Doch
auch die Ermahnungen des Pilgerweges waren nicht nur streng. Es gab und gibt
schon hier beglückende Ausblicke auf Verklärung und himmlische Glückseligkeit,
auf brüderliche Begleitung des Menschen zur Erdenzeit durch den mitpilgernden
Jesus — denken wir an den göttlichmenschlichen Santiagopilger in Santo Domingo
de Silos! — Aber den großen befreienden Schlußakkord erleben wir erst in
Santiago, dem Ziel der Reise.
Helmut Domke findet die
passenden Worte: „Wir hatten es nie anders empfunden, als daß dieser Portico de
la Gloria kein Einzelstück, sondern der Abschluß von unendlichen Kilometern und
einer Unzahl von Kunstwerken am Wege war. Er erfüllte ihren Sinn, bedeutete
ihre Quintessenz. Der eintretende Besucher wird nicht wie in St-Gilles mit der
ungeheuren Spannung der Welt konfrontiert, nicht wie vor dem Leprosen-Portal
von St-Lazare zu Autun mit Fäusten gepackt und geschüttelt. Hier singt vielmehr
die Beglückung über die Bewältigung des Pilgerweges in Zauberklängen... Ihr
seid da, wird den Pilgern zugerufen. Was anderen Menschen erst durch die
Bewährung eines langen Lebens zuteil wird, die Teilhabe an der himmlischen
Herrlichkeit, ist euch Pilgern bereits durch die Vollendung eures Weges
zugesichert. Schon winkt der Lohn. Zieht ein! Der Apostel empfängt euch nach
der unsäglichen Mühe des Weges im Namen des Herrn…“ 5
Dann geht der Weg durch den
Portico de la Gloria in das Innere der Kirche. Auch hier sind die Eindrücke
großartig. Die romanische Bausubstanz der Kathedrale ist nach dem typischen
Prinzip der Pilgerkirche gestaltet: dreischiffige Hallenkirche mit hohen Seitenschiffen,
diese aber unterteilt durch Zwischengeschosse mit Galerien. So entstanden
Lagerplätze in den Seitenschiffen, auf denen die Pilger schliefen! Die Vierung
verbindet die Längsschiffe mit dem Querschiff. Auch hier finden sich die
Galerien für die Schläfer, denn das Querschiff hat ebenfalls zwei
Seitenschiffe. In der Vierungskuppel entdecken wir eine seltsame Konstruktion,
deren Bedeutung uns erst klar wird, als beim Gottesdienst ein riesiges
Weihrauchfaß, der berühmte mannshohe „botafumeiro“, über uns hinwegfegt. Es
schwingt rasant durch das ganze 63 m lange Querschiff hindurch, Rauchwolken
ausspeiend, von acht Männern in roten Talaren gebändigt. Ist das nur Kult, war
das auch Hygiene? Tausende müssen Nacht für Nacht in der Kathedrale geschlafen
haben. War die „Verklärung“ ihrer Ausdünstungen durch den Weihrauch nicht ein
Symbol für die Annahme unserer Schwächen und Erbärmlichkeiten durch Gottes
Gnade? Vielleicht ist dieser Gedanke etwas zu übertrieben und zu
„brückenbauerisch“. Dennoch deutet sich hier eine Pilgerweisheit an, ohne deren
Annahme man „Wallfahrt“ im christlichen Sinn nicht verstehen kann: Denn
Wallfahrt ist nicht möglich ohne den großen Bogen vom Klein-Menschlichen zum
Groß-Göttlichen. Wallfahrt lebt von der Spannung zwischen Himmel und Erde.
So könnte man „Wallfahrt“ als
eine konzentrierte Form, als ein übersteigertes Synonym unserer menschlichen
Existenz bezeichnen: „Wir sind nur Gast auf Erden...“ haben wir denn auch nicht
so sehr als Totenlied, sondern als Pilgerlied gesungen.
Santiago de Compostela: Wir
müssen hier die Jakobsfigur über dem Hochaltar erwähnen, zu der man seitlich
hinaufsteigt, sie berührt und wieder hinuntergeht. Der Weg der Verehrung
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