Auf und davon
seine Chance und ergriff sie. Ohne Vorwarnung
schoß er um die Ecke, und im nächsten Moment sah man seine schmale Gestalt nur
noch von hinten. Mit gesenktem Kopf stürmte er die Seitenstraße hinunter und um
die nächste Ecke.
„Nathan ist weg, Mrs. Henrey“, rief
Julia. Sie hatte schon wieder vergessen, daß sie nicht petzen sollte, doch
ausnahmsweise hatte sie einmal das Richtige getan, und die anderen bestätigten,
was sie gesagt hatte.
„Er ist weg!“ — „Sollen wir ihm
nachrennen?“ — „Ich kann irre schnell rennen. Soll ich?“
„Laßt ihn“, meinte Mrs. Henrey wütend. „Mr.
Barlowe kann sich morgen früh um ihn kümmern. Und wenn ich von einem von euch
auch nur noch einen Ton höre, gibt’s eine Woche lang keine Spielstunde mehr.“
Das war nicht ihr Ernst, und alle
wußten es. Mrs. Henrey war streng und ließ nicht mit sich spaßen, aber im Grund
war sie doch freundlich. Nach einem anstrengenden Tag hatte sie im Moment nur
keine Nerven mehr. Trotzdem war die 6. Klasse nicht gut auf ihre Lehrerin zu
sprechen. Auch die Schüler hatten mit der Hitze zu kämpfen, dazu noch mit der
Enttäuschung und der Langeweile bei der halben Stunde stilles Lesen, die Mrs.
Henrey ihnen aufgebrummt hatte. Normalerweise gab es genügend freiwillige
Helfer, die gern bereit waren, nach dem Läuten noch dazubleiben und aufzuräumen
— doch nicht an diesem Tag. Alle stellten fest, daß sie dringend irgendwohin
mußten. Alle, außer Julia.
Mrs. Henrey mochte Julia nicht. Julia
war ungeschickt und hinterlistig, und gewöhnlich lehnte Mrs. Henrey ihre Hilfe
ab, doch an diesem Tag war sie dankbar, wenigstens ein Kind zu haben, selbst
wenn es Julia war, das half, Stühle auf die Tische zu stellen und das
herumliegende Papier aufzusammeln, nachdem alle anderen weg waren.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun,
Mrs. Henrey?“ fragte Julia eifrig und ängstlich zugleich. „Kann ich die Tafel
putzen? Bitte lassen Sie mich die Tafel putzen.“ Sie war überaus zufrieden, daß
der Tag noch so gut geendet hatte. Mrs. Henrey hatte ihr tatsächlich erlaubt zu
helfen!
„Danke, Julia. Ja, du kannst die Tafel
putzen, wenn du magst.“
Sie hat wahrscheinlich auch ihre netten
Seiten, dachte Mrs. Henrey. Ich muß versuchen, freundlicher zu ihr zu sein.
Sehr helle ist das arme Ding ja nicht. Mrs. Henrey hatte es bereits vor langer
Zeit aufgegeben, Julia etwas beibringen zu wollen. „Darf ich Ihren Schreibtisch
für Sie aufräumen?“
Mrs. Henrey hielt es für alles andere
als klug, Julia zu erlauben, die Hefte und Bücher auf dem Schreibtisch
anzufassen. Julia war schrecklich ungeschickt und vom Pech verfolgt. „Ist schon
gut, Julia“, sagte sie, „das kann ich allein. Geh du jetzt nach Hause, und
danke für deine Hilfe.“
Mrs. Henrey verließ mit einem Stapel
Bücher das Zimmer. Julia nahm an, daß sie sie in die Bibliothek am anderen Ende
des Korridors brachte. Sie betrachtete Mrs. Henreys Schreibtisch. Das
Durcheinander war unbeschreiblich. Überall Blätter, und jemand hatte
mittendrauf einen Becher mit roter Farbe und zwei Pinseln darin stehen lassen.
Julia dachte, sie könnte zumindest den Becher wegbringen und ihn zu den anderen
auf das Tablett neben dem Waschbecken stellen, wo er auch hingehörte. Sie griff
von vorn über den Schreibtisch nach dem Becher mit der roten Farbe. Dabei
entdeckte sie einen zweiten verschmierten Topf mit blauer Farbe darin, der
direkt hinter Mrs. Henreys Schreibtisch auf einem Wandsims stand. Wenn ich
schon dabei bin, kann ich den zweiten Topf auch gleich noch mitnehmen, dachte
Julia.
In ihrem Eifer bemerkte sie das
Stuhlbein nicht, das hinter dem großen Schreibtisch hervorstand. Die rote Farbe
in der einen Hand, beugte sie sich vor, um die blaue zu holen. Sie stolperte
über das Stuhlbein, stieß mit dem Arm an das Sims, daß es weh tat, und mit dem
Oberkörper gegen die Stuhllehne.
Die rote Farbe schwappte über. Sie
ergoß sich über die Hefte und Blätter auf dem Schreibtisch. Sie ergoß sich über
Mrs. Henreys schöne weiße Strickjacke, die über dem Stuhl hing. Sie floß über
Julias Kleid und spritzte ihr ins Gesicht und in die Haare. Sie tropfte auf den
Boden, sie war einfach überall. Voller Entsetzen und unfähig zu schreien,
betrachtete Julia einen Augenblick lang die Katastrophe, dann rannte sie aus
dem Klassenzimmer. Sie polterte die Steintreppe hinunter, über den Flur und
durch die offene Tür auf den Schulhof. Mit eingezogenem Kopf lief sie keuchend
die Straße
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