Auf und davon
gewesen, daß er das perfekte Versteck fast übersehen hätte. Es war
ein Überbleibsel aus dem Krieg, ein Ausguck, eine künstliche Höhle mit
niedrigem Eingang und dunklem Innenraum. Nathan schaute sich um. Er wollte
nicht, daß jemand sie hineingehen sah. Doch es war niemand auf den Klippen, und
die Wolken verdunkelten bereits die Sonne. Jeden Augenblick konnte es anfangen
zu regnen. Nathan schob Julia in den Ausguck, als die ersten Tropfen fielen.
Drinnen roch es unangenehm, und dunkel
war es auch, aber wenigstens waren sie im Trockenen.
„So gut wie unser Zelt, was, Julia?“
sagte Nathan, um sie bei Laune zu halten. Aber Julia war völlig erschöpft und
antwortete nicht.
Sie schliefen die nächsten zwei oder
drei Stunden, und als sie aufwachten, jammerte Julia, sie habe Hunger und
Durst. Das Jammern ging so lang, bis Nathan die Geduld verlor und ihr sagte,
sie solle den Mund halten.
„Ich hab aber“, sagte sie.
„Was hast du?“
„Hunger und Durst.“
„Wenn ich rausgehe und was kaufe, sieht
mich vielleicht die rosa Frau. Es ist zu gefährlich.“
„Willst du, daß ich verhungere?“
„Außerdem regnet es, und mein Pullover
ist noch nicht mal ganz trocken von gestern. Ich müßte mir deinen Anorak
leihen.“
„Dann verhungere ich nicht nur, sondern
erfriere auch noch.“
„Du kannst meinen Pullover haben. Mit
der Kapuze über dem Kopf würde mich Du-weißt-schon-wer nicht erkennen.“
„Ich will aber nicht, daß du meinen
Anorak anziehst. Ich will meinen Anorak selber behalten.“
„Julia! Sei doch vernünftig. Wenn du
was zu essen willst, mußt du mir deinen Anorak geben. Vielleicht hat die
Frittenbude offen.“
„Okay.“
„Ein bißchen Geld brauch ich auch.“
Mit Julias Anorak fühlte sich Nathan
nicht nur vor dem Wetter geschützt, sondern auch vor den neugierigen Augen von
rosa Frauen. Im strömenden Regen lief er die Treppe hinunter und über die
Uferpromenade. Ihm fiel auf, daß wieder mal fast Ebbe war.
Es war Mittagszeit, und die Frittenbude
war tatsächlich geöffnet. Nathan hatte selber einen solchen Hunger, daß er
einmal die Speisekarte rauf und runter hätte essen können. Er kaufte gebackenen
Fisch und Würstchen und Hamburger, vier Portionen Pommes frites und vier Dosen
Cola. Die Frau hinter dem Tresen wickelte das warme Essen ein und gab ihm eine
Tüte, damit er alles tragen konnte. Nathan drehte sich um und wollte gehen.
Es war heiß und stickig in der
Frittenbude, und Nathan hatte, ohne zu überlegen, die Anorakkapuze zurückgestreift.
Die blöde Brighton-Mütze hatte er ohnehin im Ausguck gelassen, er hatte ja den
Anorak.
Hinter ihm in der Schlange stand — nicht
die rosa Frau, aber der junge Mann mit dem roten Haar und der langen Nase. Der
junge Mann, der eigentlich hinter dem Ladentisch in seinem Lebensmittelgeschäft
hätte stehen müssen aber ausgerechnet diesen Augenblick gewählt hatte, um sein
Mittagessen zu kaufen.
Nathan sprintete los. Der junge Mann
war in Gedanken versunken, und wenn Nathan es nicht so offensichtlich eilig gehabt
hätte und so offensichtlich erschrocken wäre, hätte der junge Mann ihn
vielleicht gar nicht bemerkt, selbst mit unbedeckten Haaren.
Doch so konnte er gar nicht anders, als
ihn zu sehen. Und zu erkennen.
„He, du! Du bist doch der Ausreißer!“
Aber Nathan war schon verschwunden. Er
keuchte durch den Regen, flitzte über die Uferpromenade, weg von dem
rothaarigen jungen Mann und zurück zu Julia. Nathans Augen mochten zwar
schlecht sein, aber mit seinen Beinen war alles in Ordnung.
Der junge Mann war auch ein guter
Läufer. Nathan hatte einen Vorsprung, aber er brauchte alle Kraft, um den
Abstand nicht geringer werden zu lassen. Am Ende der Promenade zögerte er einen
Augenblick. Wohin? Das Letzte, was er zu tun beabsichtigte, war, den jungen
Mann die Klippen hinauf und zu ihrem Ausguck zu führen. Also rannte Nathan
geradeaus weiter, über die Bahnschienen, an einem kleinen roten Licht vorbei
und in eine dunkle Gasse, die aussah, als sei sie aus dem Berg
herausgeschnitten worden.
Als Nathan in die Gasse einbog, hörte
er hinter sich ein Kreischen und Fauchen, und als er sich umdrehte, wurde ihm
die Bedeutung des roten Lichts klar. Eine mächtige Dampflok war gerade um die
Ecke gebogen und rollte über den Bahnübergang auf den Bahnhof zu. Der Mann aus
dem Lebensmittelgeschäft stand noch auf der anderen Seite des Bahnübergangs. Er
mußte warten, bis das Licht grün zeigte, und das verhalf Nathan zu
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