Aufbruch der Barbaren
ergründen, doch mußte auch er sich eingestehen, daß die Gefahr groß war, daß bis zum Frühjahr die Einigkeit der Stämme mit der Begeisterung dahinschwinden könnte und die Horde wieder nicht mehr als ein Traum blieb.
Aber der Winter war nicht die einzige Bedrohung der Großen Horde.
Wolfsrudel begleiteten den Treck, und ihr Hunger war nicht geringer, als der der Lorvaner. Seit den Geschehnissen in den Voldend-Bergen vor dem Aufbruch der Großen Horde wußten Nottr und seine Vertrauten, daß dunkle Dinge in den Schädeln der Wölfe vorgingen. Sie waren anders – als lenke ein Verstand sie über das wölfische Verhalten hinaus.
Skoppr, sein Schamane, der den Geistern der Wölfe verschworen gewesen war und mehr über sie wußte als jeder andere Mensch dieser Welt, sprach davon, daß sie sich sammelten – zu einem gewaltigen Rudel von vielen tausend, wie die Wildländer es noch nie gesehen hatten.
Doch den Grund hatte er nicht gewußt. Vielleicht wußte er ihn jetzt, wenn er noch lebte. Aber letzteres bezweifelte Nottr. Wenn eine Teufelei mit den Wölfen geschah, wenn die Finsternis die Macht dahinter war, dann gab es keine Olinga, keinen Skoppr und keinen Cahrn mehr – nur noch ihre Körper, besessen von Dämonen.
Und sein Traum?
War er nur ein Trugbild, das ihm seine Sehnsucht vorgaukelte? Bisher hatte er das geglaubt, und der Traum war ihm teuer gewesen. Er glaubte nicht mehr, daß sie noch lebte, unberührt von der Finsternis. Sie war schon einmal zurückgekommen von den Wölfen, um Skopprs Leben für ihres zu tauschen. Aber als der Tausch geschehen war, verwandelte sie sich in einen Wolf und verschwand. Es war nicht seine Chipaw gewesen, nur ein Trugbild der Finsternis.
Und nun, nach der letzten Nacht, wurde ihm klar, daß sein Traum kein Traum war – wenigstens keiner, den sein eigener Verstand ihm vorgaukelte. Die Finsternis griff in Gestalt Olingas erneut nach ihm. Er war zu benommen gewesen, um sich zu erinnern, ob sie wirklich in sein Zelt gekommen war, oder nur als Traumbild. Aber sie – etwas Fremdes – war dagewesen und hatte von Dingen gesprochen, die er nicht verstand, von Geheimnissen, von denen nicht einmal die Schamanen wußten.
Weshalb hatten sie es getan? Es fiel ihm immer schwerer, an Olinga dabei zu denken. Er schauderte bei der Erinnerung an ihre Berührung, so zärtlich sie auch gewesen war. Sie war nur eine Kreatur gewesen, ein Werkzeug der Finsternis.
Sie wollten seinen Jungen. Und sie versuchten ihn ihm ebenso zu entreißen, wie es mit Skoppr geschehen war. Damals wie jetzt vermieden sie einen offenen Kampf.
Mehr denn je würde er auf der Hut sein müssen. Seine Hand klammerte sich um das Einhornhorn in seinem Gürtel. Es war wohl ein Zeichen gewesen, aber Glück hatte es ihm keines gebracht.
,Mythor’ dachte er unvermittelt, ,ich habe mir zuviel vorgenommen. Ich habe so wenig Erfahrung mit der Finsternis. Du würdest wissen, was zu tun ist.’
Und halblaut fluchend fügte er hinzu: »Imrirrs Eisbart, wo bleiben diese Kundschafter aus dem Süden!«
Dann straffte er sich und fluchte über seine Schwäche. Wenn Olinga in der nächsten Nacht erneut kam, würde er wach genug sein, um herauszufinden, wer oder was sie wirklich war.
2.
Er war wach und auf den Beinen, noch bevor die Wecktrommeln schlugen. Während er sein kostbares Krummschwert gürtete und die dicke Felljacke überzog, öffnete sich der Zeltvorhang, und eine vermummte Gestalt trat ein. Nottr sah überrascht, daß es keiner der Wachtposten war, aber das Gesicht konnte er in der Dunkelheit des Zeltes nicht erkennen. Seine Hand fuhr zum Dolch, aber der Eindringling sagte rasch:
»Ich grüße dich, Hordenführer. Ich bin es, Juccru.«
»Imrirr!« entfuhr es Nottr. »Meine Wachen werden nachlässig!«
»Sie gehorchen nur dem Wort eines Schamanen. Tadele sie nicht deshalb.«
»Sie werden es nicht wieder tun!« Nottr schluckte seinen Ärger. Juccru war einer von Urgats Schamanen, jener Stämme also, die gern Urgat als Führer der Großen Horde gesehen hätten. Aber Urgat selbst hatte schließlich auf die Führerschaft verzichtet und war einer von Nottres treuesten Gefährten geworden. Doch die Schamanen hatten sich mit diesem Umstand nicht so leicht abgefunden, um so mehr, als sie Nottr nicht verziehen, daß er seinen Stammesschamanen Skoppr in den Tod trieb, um das Leben seines Liebchens und seines Sohnes und eines halben Hunderts Männer zu retten, statt gegen die Wölfe zu kämpfen. Sie glaubten nicht, daß
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