Verschwiegene Schuld
Vorwort
von Alfred de Zayas
Ungerechtigkeit gibt es seit undenklichen Zeiten, und sie wird die Menschheit bis ans Ende aller Tage begleiten. Vor 2000 Jahren prägten die Römer einen Satz, der schon damals ein Gemeinplatz war: Homo homini lupus. In der Tat ist der Mensch dem Menschen ein Wolf. Er quält und tötet seine Mitmenschen.
Das 17. Jahrhundert erlebte den Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) mit seinen unglaublichen Massakern an der Zivilbevölkerung. Allein in Deutschland fand dabei ein Drittel der Bevölkerung im Namen der Religion den Tod. Doch Europa hatte schon viele andere Völkermorde, Bruderkriege und Naturkatastrophen erlebt. Wir erinnern uns an den Albigenser-Kreuzzug im 13. Jahrhundert, von Papst Innozenz III. 1209 gegen die manichäischen Häretiker in Südfrankreich in Gang gesetzt, bei dem ganze Stadtbevölkerungen ausgelöscht wurden (in Beziers allein wurden 20 000 Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet). Gleichzeitig wurde die Inquisition eingeführt, mit der bekannten Methode, Geständnisse und/oder Glaubensverzicht durch Folter zu erpressen, die in ungezählten Hinrichtungen widerspenstiger Häretiker gipfelte, unter anderem dem »Bücher de Montségur« von 1248, bei dem über 200 Angehörige der Katharen-Priesterschaft auf dem Scheiterhaufen endeten.
Krieg, Hungersnöte und Seuchen haben auch das 20. Jahrhundert heimgesucht. Tatsächlich könnten wir die beiden sogenannten Weltkriege der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts auch als unseren »Dreißigjährigen Krieg« bezeichnen, der 1914 mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo begann und 1945 mit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki endete.
James Bacque liefert uns einen Bericht über »Verbrechen und Barmherzigkeit« – so die wörtliche Übersetzung des englischen Originaltitels – im 20. Jahrhundert. Inwieweit haben wir nach unseren demokratischen Grundsätzen, unseren jüdisch-christlichen Werten von Liebe, Solidarität und Vergebung gelebt? Bacque zeigt uns, daß Leiden im Krieg wie im Frieden immer ein persönliches, nicht ein kollektives Erlebnis ist. Er führt uns die Statistik des furchtbaren Elends vor, das den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegern auferlegt wurde, fordert uns jedoch gleichzeitig auf, den Schmerz zu personalisieren: zu sehen, daß sich hinter den Statistiken Fleisch und Blut und Schmerz verbergen. Auf daß wir nicht ebenso gleichgültig wie die Statistiken werden.
Die Tatsachen sind so schreckenerregend, daß sie nur schwer zu begreifen sind. In meinen eigenen Büchern, Anmerkungen zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, habe ich die schrecklichen Statistiken der Massenvertreibungen aus den Ostgebieten in die Besatzungszonen Deutschlands zwischen 1945 und 1950 offengelegt. Bei ihnen handelte es sich fast ausschließlich um Frauen und Kinder, und von ihnen kamen mindestens 2, l Millionen nachgewiesenermaßen um. Bundeskanzler Adenauer selbst berichtete in seinen Erinnerungen von sechs Millionen Toten. Und die Bundesregierung unter Konrad Adenauer stellte im Jahr 1950 fest, daß 1,4 Millionen Kriegsgefangene niemals heimgekehrt seien. 1 Sie gelten bis zum heutigen Tag als vermißt. In seinem Buch Der geplante Tod (1989) enthüllte James Bacque, was mit ihnen geschehen war. Und nun legt er Beweise dafür vor, daß über fünf Millionen Deutsche unter der alliierten Militärregierung nach dem Krieg schlichtweg verhungerten. Diese Zahlen sind so schockierend, daß er sein gesamtes Manuskript einem weltbekannten Seuchenforscher schickte, den ich kennenlernte, als er als Sonderberater der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf tätig war. Es handelt sich um Dr. Anthony B. Miller, Leiter der Abteilung Präventivmedizin und Biostatistik an der Universität Toronto. Miller las das gesamte Werk einschließlich der Dokumentationen und überprüfte die Statistiken, von denen er sagt, sie »bestätigen die Korrektheit Ihrer (Bacques) Berechnungen und zeigen, daß insgesamt in der Nachkriegsperiode bis zur Volkszählung von 1950 etwas über fünf Millionen deutsche Zivilisten den Tod fanden, und zwar zusätzlich zu den bereits erfaßten Todesfällen. Allem Anschein nach waren diese Todesfälle direkt oder indirekt durch die Hungerrationen an Lebensmitteln bedingt, die das einzige waren, was der Mehrheit der deutschen Bevölkerung während der fraglichen Zeit zur Verfügung stand .«
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