Aufbruch - Roman
Tag. Der Rolf dir gegenüber hilft dir bestimmt, uns einzuholen.«
Ich schwieg, und Monika ermunterte mich: »Jetzt haben wir erst mal Deutsch! Bei Rebmann!« Sie blieb stehen, wandte sich mir zu und packte meinen Arm noch fester: »Du wirst sehen: ein
Fä-nohmen.« Monika betonte das Wort auf der zweiten Silbe, und ich verbiss mir gerade noch die Korrektur. »Und dabei nur ein Arm. Den anderen hat er in Afrika verloren. Gott sei Dank den linken.« Monika ließ mich los und machte sich auf den Rückweg, dann, die Hände in den Manteltaschen vergraben, blieb sie noch einmal vor mir stehen, so dicht, dass unsere Mäntel sich berührten und ich ihren warmen Atem spürte: »Was glaubst du, wie das wohl ist, wenn der einen umarmt? So richtig, meine ich? Mit nur einem Arm? Diese Kraft …« Den Rest verschluckte der Pausengong, und ohne meine Antwort abzuwarten, stapfte Monika los, ihrem Fänohmen entgegen.
Fast gleichzeitig mit uns betrat der kaum mittelgroße Endvierziger die Klasse. Sein Gesicht ein längliches, schmales Oval; weiches Kinn, scharfe Nase, die Lider verhangen, melancholische, beinah schwermütige Züge. Fest lagen die schmalen Lippen über einem starken Zahnbogen. Aschiges Haar, locker nach hinten gekämmt, setzte ein wenig zu hoch an über der Stirn. Der linke Ärmel des dunkelgrauen Flanellanzugs stak nachlässig in der Jackentasche, die Aktenmappe flog unterm rechten Arm hervor aufs Pult, wo eine kräftige Hand die Schlösser mit energischem Daumendruck aufschnappen ließ und einen Stapel Papiere hervorzog, offensichtlich Klassenarbeiten. Ich lehnte mich zurück. Ging mich nichts an.
»Spät kommt Ihr - doch Ihr kommt.« Rebmann trat vor meinen Tisch. Am Revers seines Anzugs entdeckte ich ein feines Bändchen, das dem Knopfloch Farbe verlieh und den Blick anzog wie ein drittes magisches Auge. Ein Orden, wusste Monika später dieses Fädchen zu erklären; die Medaille lege man zu Hause ins Geheimfach.
»Gestatten: Rebmann«, verbeugte sich der Lehrer vor mir wie in der Tanzschule und streckte mir seine Rechte entgegen.
Falsch, durchzuckte es mich: Der Herr wartet, bis die Dame ihm die Hand reicht. Für meinen neuen Lebensabschnitt hatte ich mich mit einem Buch versorgt, anders, als all meine Bücher
zuvor. Zu undeutlich gaben Romane in Fragen des Alltags Auskunft, zu mühsam war die Spurensuche nach Anleitungen zu korrektem Wandel in der Welt, zu perfekten Manieren, Manieren à la Bürgermeister. Mein Großenfelder Buchhändler, Maier, konnte ein ungläubiges, gleichwohl verständnisvolles, wenn nicht gar anerkennendes Lächeln nicht verbergen, als ich ihm das Einmaleins des guten Tons auf die Theke legte. Vierzigste Auflage! Frau Dr. Gertrud Oheim wusste, was sich gehört, und über eine Million Deutsche folgten ihr.
Die Frau, äh, Dame, streckt dem Mann, äh, dem Herrn, also »bereitwillig die Hand entgegen, wenn sie dessen Grußabsicht erkennt«. Oder war ich gar keine Dame? Zwar eine Sie, aber doch nur ein Mädchen, eine Schülerin?
Rebmanns bestimmter Händedruck brachte mich wieder ins Schulzimmer. Der Lehrer zog sich hinters Pult zurück und fragte, ob ich denn den Werther schon gelesen hätte.
Ich bejahte. Erleichtert.
Ich konnte übers Lesen nicht lügen.
Ein Echo meiner Kinderjahre, als ich Lesen für eine heilige Tätigkeit gehalten hatte. Übers Lesen lügen - da konnte ich ebenso gut behaupten, nach dem Schwänzen der Sonntagsmesse im Stande der Gnade zu sein. Nie hätte ich vorgegeben, etwas gelesen - und das hieß für mich: zu Ende gelesen - zu haben, so, wie manche, die freiweg über Bücher reden, von denen sie nur den Klappentext oder eine Zeitungskritik kennen. Über Bücher reden - das war für sie ein hilfreiches Mittel im gesellschaftlichen Umgang und genauso belanglos wie eine Plauderei über ein Fußballspiel oder ein Sonderangebot. Doch es gab ein Zauberwort, das mir den Rücken freihielt: das Wörtchen »noch«. Ich habe das Buch nicht gelesen, das klang, als wäre das Buch nicht gut genug für mich. Mit einem »noch« davor, kehrte sich der Satz in sein Gegenteil. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, das klang demütig, geduldig, als wartete ich sehnlich auf meine innere Reife, die alle, die das Buch schon kannten,
mir voraushatten. Mit diesem »noch« erhöhte ich sie, gestand ihnen zu, mir gegenüber im Vorteil, mir voraus zu sein - und hatte meine Ruhe.
»Nun, dann können Sie uns vielleicht in ein paar Sätzen sagen, was Sie vom Werther halten. Das
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