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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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war Thema unserer Klassenarbeit.«
    Ich wollte aufstehen, aber Rebmann hielt mich zurück.
    »Bleiben Sie ruhig sitzen. Wir sind doch keine Kinder mehr.«
    Ich hatte den Werther gelesen, mich von der Sprache überwältigen lassen. Die Person dieses Werther aber?
    »Eine faszinierende Sprache«, hörte ich mich stammeln.
    »Ja, und weiter?«, bohrte Rebmann, bohrten dreizehn Augenpaare. »Was halten Sie von der Geschichte?«
    »Also«, legte ich los. »Ich verstehe Werther! Er hat nichts mehr auf der Welt. Keine Tätigkeit, keine sittliche Idee, wie wir sie bei Schiller und Kant finden, keine Religion, an die er sich halten kann. Auch das Naturerlebnis ist nachher nur noch Spiegel seiner selbst, seines düsteren, zerrütteten Herzens, ist nur noch ›ein lackiertes Bildchen‹. Er sucht nach einer neuen Religion, einem neuen Weg, das Unendliche im Endlichen zu finden, und er trifft auf die Liebe. Sie ist ihm versagt. Er kann Lotte nicht zum Ideal, zur Heiligen erheben, obwohl er ihr eine solche Liebe andichtet. Er liebt sie mit allerheftigster Sinnlichkeit. Daher muss er scheitern.«
    »Sehr schön«, unterbrach mich Rebmann. »Ungefähr so steht es im Nachwort. Aber was halten Sie denn nun von diesem Mann? Ihre Meinung ist gefragt.«
    »Ich, äh«, druckste ich. »Ich billige Werthers Tat nicht!«
    Kichern. Füßescharren. Flüstern.
    »Und warum nicht?«
    »Nichts ist schöner, aber auch schrecklicher«, dozierte ich, »als ein reiches Gefühlsleben. Aber nicht ohne Selbstbeherrschung! Wo nur das Herz spricht, wo der Mensch seinen Verstand vergisst, da ist er zum Scheitern verurteilt.«

    »Und was hätten Sie Werther geraten zu tun?«
    »Eine Expedition.«
    »Wie bitte?«
    »Ja, eine Expedition in ein fernes, fremdes Land. Voller Gefahren und Abenteuer. So wie Alexander von Humboldt. Da wäre er auf andere Gedanken gekommen. Und hätte etwas Nützliches für die Menschheit geleistet.«
    »Nun, ich sehe, Sie sind für das Realistische. Und Goethe? Glauben Sie, er hätte Werther in den Urwald schicken sollen?«
    »Nein«, ich zögerte, »nein, ich glaube nicht. Sterben ist schöner. So schön traurig.«
    Zwei meiner Klassenkameraden mir gegenüber, deren Namen ich schon wieder vergessen hatte, stießen sich an und grinsten.
    Rebmann aber nickte und wollte eben zu einem Kommentar ansetzen, als er Monika bemerkte, die während meiner Ausführungen zunehmend unruhig auf ihrem Stuhl herumgerutscht war.
    Wie erlöst, brach es aus ihr heraus, als Rebmann sie nach ihrer Meinung fragte und ihr dazu ihren Aufsatz überreichte. Von einziger wahrer Liebe schwärmte sie, Liebe, die bedingungslos sei, gleichgültig, ob Erlösung, Erhörung oder Verdammnis, ewige Verdammnis, von Gott und den Menschen verlassen. Mit jedem Wort drängte sie ihre Augen tiefer in die des Lehrers. Der hin und wieder beifällig nickte, bis er schließlich Monikas untergründige Schwüre mit dem Kugelschreiber abklopfte wie ein Dirigent sein Orchester und sich an die Klasse wandte: »Zwei Köpfe - zwei Meinungen. Und wer hat recht?«
    Werther war nicht länger eine Figur auf dem Papier; er war aus Fleisch und Blut, wurde Mensch, nahm Gestalt an, in jedem Kopf eine andere, wir selbst wurden unglücklich Liebende und teilten sein Schicksal, als wäre er einer von uns. Rebmann diskutierte angeregt mit, nahm mal Partei für den einen, mal für den anderen Ausgang des Liebesabenteuers.
    Abenteuer! Gerhard, ein schmächtiger, pickelverunzierter Junge, brachte dieses Wort in Umlauf, woraufhin Monika ihre
Empörung - Liebe sei doch kein Abenteuer wie Bergsteigen oder Fußball, sondern eine Sache auf Leben und Tod! - kaum beherrschen konnte. Astrid hingegen konterte kühl, wäre Lotte nicht mit einem anderen verlobt gewesen, Werther wäre als braver Familienvater gestorben. Alles sei doch von Goethe so eingefädelt. Aber - und da müsse sie Hilla Palm recht geben - der Werther sei doch ein rechter Spinner, und Lotte solle froh sein, dass sie ihren handfesten Albert habe. Schließlich hätte sie auch enden können wie Gretchen. Kind im Bauch und Heinrich auf und davon. Goethe selbst sei ja auch ab nach Italien, weil die Sache mit Frau von Stein aussichtslos war. Überhaupt - und hier reckte Astrid ihr starkes Kinn energisch vor - müsse man doch auch die Zeit berücksichtigen, in der Goethe das geschrieben habe. Und sowieso sei doch alles nur erfunden.
    Nur erfunden? Damit hatte Astrid der Diskussion eine neue Wendung gegeben. Was das heiße: nur erfunden? War es

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