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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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deshalb weniger wert? Werther weniger wirklich? Weniger wahrscheinlich? Läsen wir die Geschichte anders, nähmen wir sie anders wahr, wenn sie in der Zeitung gestanden hätte, sie wirklich geschehen wäre, Werther wirklich gelebt hätte?
    Entschieden schlug ich mich auf die Seite derer, denen es gleichgültig war, ob Erfundenes oder Tatsächliches zur Sprache gebracht wurde: »Wenn es mich packt, mich ergreift, nicht mehr loslässt, dann ist es gut«, behauptete ich. »Egal, ob wirklich oder erfunden. Am besten sind erfundene Geschichten, denen man gar nicht anmerkt, dass sie erfunden sind.«
    Wie sonst, dachte ich, könnte ich um Gretchen weinen, Faust verdammen, mit Anna Karenina zittern und Gessler hassen, wären sie nur Druckerschwärze und Papier oder irgendwelche Hirngespinste!
    Dass mir Studienrat Dr. Werner Rebmann meine Liebe zu den Büchern und Buchmenschen, den wohlwörtlichen Wortgebilden einer Madame Chauchat, einer Effi Briest, eines Hamlet oder Josef K. nicht durch Fakten und Daten verdarb, dafür flog ihm mein Herz entgegen. Ein paar Einordnungen verlangte
auch er; doch sein Wunsch, uns zum Selberdenken anzuregen, überwog. Richtig oder falsch gab es nur selten. Nicht: Was will uns der Dichter damit sagen?, wie es uns das furchtsame, buchstabengläubige Fräulein Abendgold in der Realschule beigebracht hatte, interessierte Rebmann. Er wollte wissen: Was hat er Ihnen zu sagen? Was können Sie anfangen mit diesem Gedicht, dieser Erzählung, dieser Figur? Argumente zählten. Eine Meinung haben und sie begründen, eine An-Sicht der Sache, am besten nicht nur eine, sondern von allen Seiten, das Für und Wider erwägen, Schlüsse ziehen. Dem eigenen Denken vertrauen. Sich hineinversetzen in die Figuren. Lesen sollte zum Denken führen. Klappentexte und sogenannte Einführungen hätte er am liebsten verboten. Besonders bei Neuerscheinungen und zeitgenössischen Autoren.
    Nie wollte er wissen, ob uns etwas gefalle. Unser Geschmack war so wenig gefragt wie unser Gefühl. »De gustibus non est disputandum«, erklärte er augenzwinkernd, »oder erst recht! Geschmack ist etwas für Suppenköche und Kaltmamsells. Ein Rinderbraten hat Geschmack oder ein Königsberger Klops, und zwar nur auf meiner Zunge. Oder wissen Sie etwa«, Rebmann schleuderte seine Rechte in die Klassenluft gegen alle und jeden, »wissen Sie etwa«, scharf fasste er irgendeinen von uns ins Auge, »wie meinem Gaumen ein Karamellpudding mundet?«
    Ich hütete mich, ihm zu widersprechen. Aber ich folgte ihm nicht. Ich dachte, wie er es verlangte. Aber ich dachte mit Gefühl. Und fühlte mit Begründung.
    Kaum hatte Rebmann die Klasse verlassen, zupfte Monika mich am Ärmel nach draußen und sah mich gespannt an. Ich tastete nach meinem Lachstein. Bloß jetzt ernst bleiben. Wo die Liebe hinfällt … Ich hatte es selbst erlebt, und die Bücher waren voll davon. Monika war verrückt oder verliebt, was dasselbe war. Jedenfalls für mich.
    »Warum grinst du denn so?« Monika zog den Schal ein Stück höher. »Ich dachte, du verstehst mich. Nicht so wie die da.«
Monika ruckte ihren Kopf in Astrids und Ankes Richtung. »Die haben nichts als die Schule im Kopf.«
    Ich auch, hätte ich am liebsten geantwortet. »Komm«, raunte ich und fasste Monika beim Arm. »Und ob ich dich verstehe.« Nicht einmal gelogen war das. Erzählen konnte man mir alles. In der Wirklichkeit und in den Büchern. Nur erleben wollte ich nichts von dieser Bürde der Gefühle. Ich wollte keine Liebe. Ich wollte lernen. Ich vermisste nichts. Ich hatte den Unterricht, die Schule. Und meine Freunde in den Regalen, mit denen ich mich jederzeit aus dem Alltag herausschleichen konnte, um zu erkunden, was es alles gab, was alles auf mich wartete. Später, das Abitur in der Tasche, würde ich mich ohne Eile entscheiden, wie ich es leben wollte, das Leben.

    Er stand an der Kiste, kehrte mir einen Cordsamtrücken zu und sah kaum auf, als ich an die Kiste daneben trat.
    Meine große, heimliche Liebe: diese Kisten. Schon in meinem letzten Realschuljahr hatte mich diese Leidenschaft gepackt, doch die Riesdorfer Kisten waren ungleich besser als die Großenfelder gefüllt. Allein die kleine prickelnde Mühe, ihnen nahe zu kommen, war pure Freude, eine Bushaltestelle vor der meinen standen sie, schon von weitem sah ich ihnen mit dem Auge der Begierde entgegen. Beinah jeden Tag nahm ich den Umweg in Kauf. Auch wenn sich tagelang an den Beständen nichts änderte, nie konnte ich des Innenlebens

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