Aufbruch - Roman
der Kisten sicher sein.
»Buch Bücher Buche«, verkündete das Schild im Schaufenster. Julius Buche: sein Name mehr als die Mehrzahl, ein Pluralissimus, sozusagen das non plus ultra des Buchwesens. Ich hatte mit Buche, ganz wie mit dem Großenfelder Buchhändler, bald Freundschaft geschlossen und ließ oft zwei, drei Busse fahren, wenn mich eine Neuerscheinung fesselte. Im Winkel hinterm
Laden, nicht viel größer als mein Holzschuppen, durfte ich sitzen, meist mit einer Tasse Malzkaffee oder Kakao.
Vor dem Schaufenster mit den Neuen standen die Kisten mit den Verstoßenen aus den vier Wänden, aus den Regalen Vertriebene, Flüchtlinge, Waisen, Obdachlose, aus den Kisten heraus flehten sie: Begehre mich, nimm mich mit, schlag mich auf, mach mich jung und schön und lesenswert. Am liebsten hätte ich sie jedesmal alle erweckt, verwandelt, befreit vom Makel der heimatlosen Minderwertigkeit. Ich kam aus dem Holzstall und strebte auf einen Platz in den Regalen, in den Regalen bei Kunst und Wissenschaft, einen Platz in der Nähe von Rosenbaum, Rebmann, Sellmer, Kreuzkamp. Die hier draußen waren auf den umgekehrten Weg gezwungen, aus der Erhöhung der Regale in die Erniedrigung der Kisten abgestürzt. Und die Kisten machten alle gleich.
Hier lagen Goethe und Schiller, Lessing, Kleist, Hebbel, Mörike, Büchner, die Droste, Keller, Fontane, Storm neben Vicky Baum: Es begann an Bord . Roman einer Tropennacht . Annemarie Selinko: Désirée , Hedda Zinner: Nur eine Frau. Letztere meist in der modischen Einkleidung des Aktuellen; so jung, so neu und schon ausgestoßen. Keine Zeit zu reifen in den Regalen, erst beim Buchhändler, dann in der Schrankwand des Käufers, womöglich sogar in einer Bibliothek. Die bunten Einbände zwitscherten lockend, Zuckerwatte und türkischer Honig, aber ich ließ mich nicht irreführen: Fast immer verbarg das knallige Außen einen matten Inhalt.
Je zurückhaltender die Bücher daherkamen, desto vorbehaltloser durfte man sich ihnen anvertrauen. Die Kiste, die üblen äußeren Umstände, machten doch nicht alle gleich. Ob man als Reclam-Band Nummer einhundertvierundzwanzig, als F aust , Nathan oder Kaufmann von Venedig in der Kiste lag, war doch etwas anderes, denn als Frauenarzt Dr. Holm , Komtesse Beate oder Die Erbin vom weißen Schloss hier zu enden. Trotzdem: Auf den ersten Blick verstieß ich keinen. Einmal in die Hand
nahm ich sie, eines Blickes würdigte ich sie alle. Auch die bunten. Auch mit ihnen hatte sich jemand monate-, vielleicht jahrelang Mühe gegeben, hatte Zeit und Geist, Kraft und Hoffnung aufgeboten, nur damit sich der Daumen des Buchhändlers alsbald nach unten senkte. Raus! Kasten! So, als hätte jemand trotz allen Übens, trotz aller Mühen die Stange beim Hochsprung gerissen. Einen Verlag hatten die Blätter noch gefunden, ins Buch hatten sie es noch geschafft, gedruckt, gebunden zwischen zwei festen Deckeln, oft sogar in farbigem Leinen unterm Glanzpapier. Aber dann hatte es wie bei der Olympiade - ist dabei sein wirklich alles? - doch nicht für Medaillenruhm gereicht.
Ohnehin wurde ich vor der Tür nur selten fündig, wusste ich doch, was mich dahinter erwartete. Dort hielt der Buchhändler für besondere Kunden eine zweite, kleinere Kiste bereit und für mich noch einmal eine Schachtel, Schuhschachtel mit Reclam-Heftchen, die er noch nicht in die Kälte der Kiste ausgesiedelt hatte. Wen ich hier nicht erwählte und erwarb - zu einem Betrag, der für meine Finanzen spürbar, objektiv aber eher symbolisch war -, der musste raus: Die Schuld an der Endstation Kiste konnte ich nicht auf den Buchhändler allein schieben.
Von einem Titel ließ ich mich nur selten verführen. Öfter schlug ich eines der Hefte auf, las einen Satz und fühlte mein Herz im Hals. Ich war auf einen Herzsatz gestoßen; dann musste es dieses Heft sein und kein anderes. Der Satz war mir zu Herzen gegangen, und ich würde mir, was das Buch zu sagen hatte, zu Herzen nehmen, es an mein Herz nehmen, mich ihm anvertrauen, ihm trauen. Indem ich es erlas, würde ich mich selber lesen, indem ich es verstand, verstand ich mich. Bücher sollten mich aus mir herausfordern.
Einmal, ich hatte mich wieder lange beim Buchhändler herumgetrieben, stand da auf meinem Weg zum Bus ein Karton mit Büchern. Einfach so, auf der Straße. Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Buchrücken: Für eine Nacht . Das Schloss am Meer . Das Beichtgeheimnis. Es wurde schon dunkel. Ich sah mich um. Sah vor anderen
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