Aufenthalt in einer kleinen Stadt
im milchigen Widerschein der Scheiben vor sich hin. De Schangnau sah auf die Uhr. Einundzwanzigsie-benunddreißig. Um Zweiundzwanzigneunundfünfzig würde er zu Hause sein. Er steckte eine Parisienne in Brand. Alles war durchzittert vom gleichmäßigen Stampfen des Zuges, alles eingesponnen in Glas und Eis. Der Zugführer wankte vorbei mit seiner roten Tasche und kurz danach, vom Speisewagen her, der Lausanner Staatsrat Roß – zum Glück kurzsichtig –, mit dem er einst befreundet gewesen war. De Schangnau spähte hinaus. Er ahnte ferne Lichter und Leuchtreklamen, und der Zug fuhr, vielleicht zwischen Solothurn und Grenchen, vielleicht auch anderswo, in den Bahnhof einer kleinen Stadt ein, den der Bankier durch den Eisbelag kaum zu erkennen vermochte und bei dem es keinen vernünftigen Grund hätte geben können, auszusteigen.
Daß er dies gleichwohl tat, war in einer gewissen Neugier begründet, die noch das einzige war, woran er sich klammern konnte. Er hatte durch die beinahe blinde Scheibe eine heller-leuchtete Frauenhand gesehen, die aus einem Kiosk heraus den Reisenden der ersten Klasse bediente, der eben ausgestiegen war.
De Schangnau konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er stieg aus dem Zug. Der leere Bahnsteig war nur notdürftig erleuchtet. Die Kälte ernüchterte ihn. Er ging den Zug entlang und trat zum Kiosk. Doch entsprach die Verkäuferin nicht ganz der zierlichen Hand. Ihre Zähne waren schwarz und verfault. Der Bankier zögerte, wußte nicht, was er eigentlich gewollt hatte, was er nun sollte, verlangte endlich Zigaretten, obgleich er noch ein Paket in der Tasche hatte, und suchte nach Geld, ärgerlich über sein Aussteigen. Da setzte sich der Zug in Bewegung. Der letzte Freiherr von Schangnau konnte nicht aufspringen, der übergeworfene Mantel hinderte ihn. Es blieb ihm nichts anderes, als in den Tweed zu schlüpfen, ihn 7
zuzuknöpfen und nach der erleuchteten Fensterreihe zu starren, die mit steigender Schnelligkeit an ihm vorbeiglitt und in der Nacht verschwand, im leeren Raum, wie ihm schien.
Schnellzüge – bemerkte leicht verärgert, als sei ihm das Mißgeschick begegnet, der Bahnhofsvorstand, an den de Schangnau sich wandte –, Schnellzüge hielten nur kurz, und es sei am besten, sie nicht unnötigerweise zu verlassen, Zigaretten könne man auch im Speisewagen kaufen. Wo er denn hinwolle?
»Nach Yverdon.«
Wo Pestalozzi gelebt habe, stellte der Bahnhofsvorstand fest und klemmte die Kelle unter den Arm, die das Unglück verschuldet hatte.
»Richtig«, antwortete de Schangnau.
Yverdon sei nicht mehr zu erreichen, fuhr der Bahnhofsvorstand fort, im Kursbuch blätternd, es tue ihm leid. De Schangnau meinte nachlässig und den Bankier spielend, der er nicht mehr war, man sollte sich um sein Gepäck kümmern, im Raucherabteil zweiter Klasse.
Er werde telefonieren, sagte der Bahnhofsvorstand.
Wie denn das Städtchen heiße?
Konigen.
»Sie!« lachte der verkrachte Bankier: »Wer kommt auch nach Konigen. Betrachten wir uns in Gottes Namen dieses traurige Nest. Gibt es ein anständiges Hotel?«
Der ›Wilhelm Tell‹ sei so eines, antwortete der Bahnhofsvorstand mit Würde und wandte sich ab.
›Nun‹, dachte de Schangnau, ›wer in der Stadt Pestalozzis wohnt, kann auch im ›Wilhelm Tell‹ übernachten, nickte dem Bahnhofsvorstand zu, ohne dessen Zorn und Abwendung zu bemerken, und betrat die Halle. In der Mitte band sich der Mann, der im Tweedmantel im Erstklaßabteil gesessen hatte, den linken Schuh, zusammengekrümmt, in einer sicher unan-genehmen Stellung. De Schangnau sah der Verkäuferin nach, 8
die ihren Kiosk geschlossen hatte und nun an ihm vorbei zum Ausgang strebte. Die Frau kam ihm doppelt reizlos vor in ihrem roten Mantel und ihren Skihosen. Im Ausgang stand ein Zeitungsverkäufer, frierend, mit Ohrenwärmern und eine Brissago rauchend. Der Freiherr kaufte sich das ›Feuille d'Avis de Lausannes die ›Basler Nachrichten‹ und die ›Sie und Er‹.
Im ›Wilhelm Tell‹ wollte er noch etwas lesen, im Bett vor dem Einschlafen, zu Hause am ›Place‹ würde er dies auch tun.
Auf dem Bahnhofsplatz war es kalt. Das Städtchen lag entfernt, wohl gegen die Hügelkette zu, nur wenige Häuser umgaben den schwach beleuchteten Platz, das Hotel Zum Bahnhof, das aussah wie alle Hotels Zum Bahnhof, und ein neuerer Bau, die Post. Ein Trolleybus fuhr davon, der rote Mantel der Verkäuferin leuchtete durch die Scheiben. Der Platz war nun menschenleer. Vor der Post stand
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