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Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Titel: Aufenthalt in einer kleinen Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Gefühl aufstieg, der Coiffeur ahne, wen er da unter dem Messer habe.
    »Pardon, mein Herr, pardon«, sagte der Coiffeur bestürzt, wie er sah, daß er den Bankier geritzt hatte, und behandelte ihn mit einem blutstillenden Stift, er sei untröstlich, er habe doch sonst die sicherste Hand von Konigen, nur heute sei er durch das nationale Unglück wie von Sinnen.
    Das mit den Freimaurern sei Blödsinn, ärgerte sich inzwischen der Metzger von seinem Stuhle her, immer noch mit der
    ›Schweizer Illustrierten‹, der Haarschneider solle doch gerade noch mit den Juden kommen, dann hätte man die möglichen Sündenböcke beieinander. Eine Gasleitung werde geplatzt sein, sagte er, denn die Vernunft, die es brauche, den Stöpsel fortzuschaffen, traue er heutzutage weder einem Juden noch einem Freimaurer zu, und am allerwenigsten den Moskauern oder gar den anderen Parteien, seien dies nun die Katholiken, der Dutti oder ein Sozi. Man solle doch zugeben, daß der Stöpsel nichts als ein lästiges Verkehrshindernis gewesen sei, nur mit einem Volkswagen sei man hindurchgekommen, und auch dies nicht einmal richtig. Aber eben, wann ginge es in der Politik je um das, was klipp und klar auf der Hand liege, sonst wäre wohl der Stöpsel längst nicht mehr vorhanden. Er sage dies, obwohl der Stadtbaumeister hier sei und gerade deswe-gen. Kein Haus, keine Garage, keinen Kaninchenstall könne man heute bauen lassen, ohne daß er hineinrede, immer müß-
    ten die alten Zeiten berücksichtigt werden und die alten Stile, und einige Koniger täten so, als ob man heute noch mit Bärten 19

    und Morgensternen herumliefe.
    »Herr Ziel«, antwortete der Coiffeur an Stelle des Stadtbaumeisters, der immer noch schwieg und den Blick auf de Schangnau gerichtet hielt, »Herr Ziel«, sagte er, während er den Bankier mit Eau de Cologne bestäubte, »es gibt außer dem Materiellen noch Geistiges, und der Stöpsel ist etwas Geistiges gewesen, ein heimatlicher Wert und ein Symbol des echten Schweizergeistes wie der Pestalozzi und der Gottfried Keller.«
    Er sei auch ein echter Schweizer, entgegnete der Metzgermeister und schwang die ›Schweizer Illustrierte‹ wie eine Fahne, und ein gerade so guter wie der Gottfried Keller, den er ebenfalls in der Schule gelesen habe, aber ein moderner, der sich nicht einbilde, wie der Künzi, an der Bollenschlacht mitge-kämpft zu haben, unter dem Ritter Kuno von Zäziwil, von dem es ihn nur wunder nehme, ob er sein berühmtes »Wir siegen, denn wir haben den Geist«, auch gesprochen hätte, wenn die damaligen Schwaben mit einer Atombombe gegen den Bollen gezogen wären. Man solle ihm nicht immer mit den Leistun-gen der alten Schweizer kommen. Steuerzahlen sei eine ebenso große Heldentat wie eine Schlacht zu gewinnen, und er bezahle mehr Steuern als alle in diesem Laden zusammengenom-men. Die Zeit könne niemand zurückbiegen, und wäre er der beste Stadtbaumeister der Welt, man lebe nun einmal von der Milchsiederei, den Delta-Uhren, dem Karosseriewerk und von den Stumpen und der Fahrradfabrik und nicht vom großen Stöpsel. Ehrlichkeit, meine Herren, rief er aus, während der Coiffeur de Schangnau abbürstete, der sich erhoben hatte, Ehrlichkeit sei die wahre Schweizerart. Zuerst komme der Käse und dann erst der Stöpsel; dies sei nun einmal die natürliche Rangordnung, und nicht nur in Konigen, sondern auch in der ganzen Schweiz, die aus ihrem Nationalhelden Tell schon längst eine Reklamefigur gemacht habe. Darum solle man auch jetzt nicht ein gar so gewaltiges Unglück aus dem in die Luft geflogenen Stöpsel machen, hin sei hin, und niemand 20

    hindere einen, dessen Bild weiterhin auf die Produkte der Milchsiederei, die Stumpen und die Würste zu kleben, wohin es auch gehöre.
    De Schangnau, endlich dem Coiffeurladen entwichen, ging über die Straße in den ›Wilhelm Tell‹ zurück und ins Früh-stückszimmer. Er hatte Hunger. Er bestellte zwei Eier im Glas, was er besonders liebte, und Milchkaffee. Er saß am Fenster in der Sonne und sah, wie nun auch der Stadtbaumeister gegen-
    über den Laden verließ, unentschlossen das Gasthaus betrach-tete und dann weiterging.
    Am Nebentisch saß ein weiterer Gast des Hotels, dessen Ähnlichkeit mit dem Stadtbaumeister dem Bankier nun auffiel, er war ebenso wuchtig und gedrungen wie Künzi, doch nicht bäurisch gekleidet. Er saß in einer weiten Wildlederjacke mit Knickerbockern an seinem Tisch, durchaus wie ein Tourist, mit hohen genagelten Schuhen, und aß ein

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