Aufgeflogen - Roman
gerne hört, heißt das: auf Wolken schweben. So weit war es mit mir schon gekommen. Nicht nur, dass ich seit mindestens fünf Wochen keine mehr geküsst hatte, ich war schon unendlich glücklich, wenn ein Mädchen mich ins Café einlud. Nein, nicht irgendeins, sondern sie.
Ich bemühte mich, vor ihr im Café zu sein, zog das Buch von Márquez heraus und tat so, als würde ich mich in die Lektüre vertiefen. Ich war immer noch nicht weiter als bis Seite 50 gekommen, aber das wollte ich nicht zugeben. Also schlug ich irgendwo zwischen Seite 200 und 250 auf und spielte den aufmerksamen Leser.
»Hi«, sagte sie nur und setzte sich mir gegenüber.
Ich lächelte sie an, legte ein Lesezeichen meiner Mutter ins Buch und klappte es zu. Natürlich steckte ich es nicht ein, sondern legte es ganz beiläufig auf den Tisch.
»Kennst du das?«, fragte ich und schob ihr das Buch zu.
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber es ist ein Bestseller, noch dazu von einem kolumbianischen Schriftsteller, der den Nobelpreis bekommen hat«, hielt ich dagegen.
»Ich habe nicht so viel Zeit zum Lesen«, sagte sie. »Und außerdem: Kolumbien ist weit weg.«
»Es ist deine Heimat.«
»Ich bin schon sehr früh nach Deutschland gekommen.«
»Kannst du noch Spanisch?«
Sie nickte nur und bestellte für sich Tee. Meine Kaffeetasse war bereits leer. Eigentlich wollte ich gerne einen zweiten Cappuccino. Aber ich zögerte zu bestellen. Denn ich war mir sicher, sie wollte ihn bezahlen. Und ich wusste, dass sie knapp bei Kasse war.
Wir schwiegen eine Weile. Sie blies in ihren Tee, ich löffelte den restlichen Milchschaum aus meiner Tasse.
»Du kannst wirklich toll erklären.«
»Quatsch, du kapierst einfach schnell.«
»In meiner alten Schule waren wir in Mathe noch nicht so weit.«
»Warum bist du von dort weg?«
Sie sagte zunächst nichts, dann sah sie auf meine Tasse.
»Möchtest du noch einen Cappuccino?«
Ich nickte nun doch. Es war doof, eine Stunde ohne Getränk herumzusitzen.
Wie ich den Mut fand, locker und offen mit ihr zu reden, das weiß ich nicht. Aber mir machte ihre Verschwiegenheit viel aus, ich fand, dass ich allmählich ein Recht hätte, mehr von ihr zu erfahren. Oder wenigstens eine Erklärung dafür zu hören, warum sie aus ihrem Leben ein Geheimnis machte.
»Es ist schwer, mit jemandem zu reden, der nichts erzählen will«, sagte ich. »Wir verbringen viel Zeit miteinander und du sagst nie etwas über dich.«
Sie sah mich mit großen Augen an, aber sie schwieg.
»Deshalb, damit wir uns hier nicht ewig anschweigen müssen, erzähle ich jetzt einfach von mir, ob es dich interessiert oder nicht.«
Ich fing irgendwo an. Dass mein Vater Anwalt war, meine Mutter als Heilpraktikerin arbeitete, ich keine Geschwister hatte.
»Ich habe auch keine«, sagte Isabel. Ich spürte so etwas wie Glück. Die erste persönliche Information. Ich wollte schon nachfragen, was ihre Eltern machten, aber instinktiv hielt ich mich zurück. Wahrscheinlich wäre das schon wieder ein Schritt zu viel gewesen.
»Meine Mutter färbt ihre Haare rot, um nicht alt auszusehen. Sie kleidet sich, als wäre sie gerade erst zwanzig geworden und sie wäre gerne dünner.«
Isabel schmunzelte, und ich hoffte, sie doch noch zum Lachen zu bringen, deshalb machte ich einfach weiter.
»Dad ist eher so der Typ seriöser Mittvierziger, der sich gerne fit hält mit Joggen und Tennis. Dabei ziemlich eitel. Kein Spiegel, an dem er vorbeikommt, ohne dass er hineinsieht und seine grauen Schläfen bewundert, auf die seine Sekretärin so steht.«
Wieder lächelte sie.
»Einen Hund haben wir auch. Den habe ich bekommen, als ich fünf Jahre alt war. Jetzt ist er schon ziemlich alt, geht nicht mehr so gern spazieren, aber …«
»Wie heißt er?«
»Jim Knopf.«
Sie runzelte die Stirn, sah mich fragend an. Ich erzählte ihr von dem Kinderbuch mit Jim Knopf, Lukas und der Lokomotive Emma. Und von Lummerland, das von Alfons dem Viertel-vor-Zwölften regiert wurde.
»Das kann nur einem Deutschen einfallen, einen König nach der Uhr zu benennen«, lachte sie. Für mich war es, als würde die Sonne aufgehen. Okay, kitschiger Vergleich, aber wahr.
Ich war so fasziniert von ihrem Strahlen, dass ich Idiot gleich ihre Teetasse umwarf und mir die Hand verbrühte.
Natürlich taten sie so, als sei alles in Ordnung.
»Sie ist sehr nett«, sagte Mom. Und Dad glaubte, behaupten zu müssen, dass Isabel einen guten Einfluss auf mich habe. Wie auch immer er darauf
Weitere Kostenlose Bücher