Aufgeflogen - Roman
hatte jemand in der Nachbarschaft Verdacht geschöpft, ein schiefer Blick zu viel, eine Frage zu konkret. Auch in der Schule, die sie bis zum letzten Weihnachtsfest besucht hatte, war es so gewesen. Die ersten Mitschüler hatten eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte; die Lehrerin, die sie immerbesonders unterstützt hatte, gab ihr den Tipp, an welcher Schule sie es noch versuchen könnte, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Ein Direktor, der nicht so genau nachfragt, der keine Papiere sehen will, der Informationen über die neue Schülerin nicht unbedingt an die Behörden weitergibt. Sie hatte so sehr gehofft, dort länger bleiben zu können. Doch jetzt war es wieder so: keine Wohnung, keine Schule, erneut auf der Flucht und auf der Suche nach mehr Sicherheit. Doch – eines ist anders als früher. Es gibt Christoph.
Sie möchte ihn gerne anrufen oder ihm eine SMS schicken, aber sie ist nicht sicher, ob das klug ist. Wo mag er jetzt sein? Sie sieht auf die Uhr. Er müsste noch in der Schule sitzen, neben Ben. Sie haben vereinbart, dass er sich so normal wie möglich verhält. Sie hofft sehr, dass er es auch tut. Zu seinem eigenen Schutz – und natürlich auch zu ihrem.
Immer wieder taucht blitzlichtartig die schreckliche Szene der Nacht vor ihr auf. Kröger, wie er im Keller liegt, das Blut, der seltsam verdrehte Hals, die aufgerissenen Augen. Ihr Entsetzen, ihre Angst, alles ist dann wieder da.
Bestimmt ist die Polizei schon im Haus. Sichert die Spuren. Spricht mit den Mietern. Die Frau des Hausmeisters: Wer sagt ihr, dass ihr Mann tot ist? Sie habenoft gestritten, das war im ganzen Haus zu hören, sie liebten sich bestimmt schon ewig nicht mehr – aber vielleicht ist sie doch geschockt, entsetzt, traurig.
Isabel setzt sich mit ihrem Tee ans Fenster. Lugt hinaus. Kein Mensch weit und breit. Soll sie es doch wagen und hinausgehen in die Sonne, ins Licht?
Später vielleicht.
Wahrscheinlich wird die Polizei die Hausbewohner vernehmen, einen nach dem anderen. Wer wird sagen, dass da unten in der Abstellkammer eine Frau und ihre Tochter wohnten? Die meisten wissen nicht, dass sie und ihre Mutter sich illegal in Deutschland aufhalten. Manche ahnen es, Mehmet hat es ihr einmal auf den Kopf zugesagt und sie hat es zugegeben.
Sie will diese Gedanken verdrängen, aber sie kommen immer wieder.
Was ist letzte Nacht passiert? Und vor allem: Welche Konsequenzen hat es für sie und ihre Mutter?
Wenn Kröger ermordet worden ist … werden sie dann als Zeugen gesucht? Oder sind sie allein deswegen verdächtig, weil sie verschwunden sind? Wird dann nach ihnen gefahndet? Mit Radiodurchsagen, Plakaten und allem Drum und Dran? Wenn man sie erwischt, gibt es ein faires Gerichtsverfahren, bekommen sie einen Anwalt und kann der ihnen helfen? Kommen sie ins Gefängnis oder werden sie gleich abgeschoben?Wie könnten sie ihre Unschuld beweisen? Immerhin hätte sie ein Motiv. Wie so viele andere auch. Alle im Haus hassten Kröger.
Wenn Kröger nur gestürzt wäre, also an den Folgen eines Unfalls gestorben ist … wäre das besser? Klar, vor allem wenn das schnell rauskäme. Ein Unfall, keine Ermittlungen, sie und ihre Mutter könnten gleich zurück, ohne dass ihr Verschwinden überhaupt groß auffiele. Aber wenn er ermordet worden ist, dann macht es sie besonders verdächtig, dass sie abgehauen sind. Hätten sie bleiben sollen, weil sie unschuldig sind? Auch wenn die Polizei sie nur als mögliche Zeugen befragt hätte, mit Sicherheit wäre rausgekommen, dass sie Illegale sind. Sie wären abgeschoben worden. Was für eine verzweifelte Situation.
Schlagartig wird Isabel klar, dass sie ab jetzt in keinen Teil ihres bisherigen Lebens zurückkann. Nicht in die Schule, nicht in ihre Wohnung. Sie verliert wieder einmal alle Kontakte, außer ihrer Mutter wird ihr niemand bleiben. Und was ist mit Christoph?
Wieder sieht Isabel zur Uhr. Sie sehnt Christoph herbei. Sie will seine Wärme spüren, er hat ihr gestern so viel Sicherheit gegeben mit seiner Ruhe und Klarheit. Wie er mit ihnen das weitere Vorgehen geplant hat, wie er für sie da war. Sie hat immer so sehr gehofft, dass sie seine Hilfe nicht braucht. Doch nun hat sie ihn in ihr Schicksal mithineingezogen.
Jetzt wird er einkaufen. Und die Vorräte hierherschaffen, zu ihnen. Hoffentlich ist er noch nicht ins Visier der Ermittler geraten. Kann er sich noch frei bewegen? Oder bringt ihn die Polizei schon mit ihrem Verschwinden in
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