Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
E ine Anmerkung von Jodi Picoult
Ich war gerade auf Lesereise in Los Angeles, als mein Telefon klingelte. »Mom«, sagte meine Tochter Sammy, »ich glaube, ich habe eine ziemlich gute Idee für ein Buch.«
Das war nicht ungewöhnlich. Von meinen drei Kindern hatte Sammy schon immer die lebhafteste Fantasie. Während andere Kinder einfach nur mit ihren Stofftieren spielten, verteilte Sammy ihre im ganzen Haus und inszenierte ausgefeilte Szenarien – der Teddy steckt verletzt auf dem Mount Everest fest, und ein Rettungshund muss hinaufklettern, um ihn zu retten. In der zweiten Klasse bat mich ihr Lehrer, Sammys Kurzgeschichte abzutippen. Sie war vierzig Seiten lang. Als meine Tochter damit nach Hause kam, erwartete ich eine weitschweifige Ansammlung von Wörtern, doch ich bekam eine stimmige Geschichte über eine Ente und einen Fisch, die sich in einem Teich kennenlernen und beste Freunde werden. Die Ente lädt den Fisch zum Abendessen ein und der Fisch nimmt die Einladung gerne an. Aber dann kommen ihm Zweifel: Und wenn ich nun das Abendessen bin ?
Das, verehrte Leser, nennt man in der Literaturwissenschaft »einen Konflikt erschaffen«, und es ist das Einzige, das einem niemand beibringen kann. Entweder liegt einem das Geschichtenerzählen im Blut oder eben nicht, und meine Tochter schien bereits im Alter von sieben Jahren ein angeborenes Gespür dafür zu haben, wie man literarische Spannung aufbaut. Sammys Kreativität trug immer reichere Blüten, je älter sie wurde. Ihre Albträume sind so lebhaft, dass sie es mit Storys von Stephen King aufnehmen könnten. Schon jetzt als Teenager schreibt sie Gedichte, die mich dazu gebracht haben, meine eigenen Poesiehefte aus der Jugend hervorzukramen, nur um festzustellen, dass sie sehr viel weiter ist als ich im selben Alter.
Und darum habe ich gleich aufgehorcht, als Sammy mir erzählte, sie habe eine interessante Idee für ein Jugendbuch.
Und wissen Sie, was? Sie hatte recht.
Was wäre eigentlich, wenn die Charaktere in einem Buch ein Eigenleben hätten, nachdem der Buchdeckel zugeklappt wurde? Wenn der Akt des Lesens nur bedeuten würde, dass die Figuren immer wieder das gleiche Stück aufführen … und diese Schauspieler aber Träume, Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte jenseits der Rollen haben, die sie tagtäglich für den Leser spielen? Und wenn gar einer der Charaktere das Buch unbedingt verlassen wollte?
Besser noch, wenn sich eine Leserin in ihn verlieben und beschließen würde, ihm zu helfen?
»Mom«, sagte Sammy, während ich mich durch den Verkehr von Los Angeles quälte. »Wie wäre es, wenn wir das Buch gemeinsam schreiben würden?«
»Okay«, sagte ich zu ihr, »aber das heißt, wir schreiben es. Nicht ich.«
Darauf folgten zwei Jahre, in denen wir abends, an den Wochenenden und in den Schulferien Seite an Seite an meinem Computer saßen und eifrig an der Geschichte bastelten. Ich glaube, Sammy war überrascht, was für ein hartes Stück Arbeit es bedeutet, stundenlang dazusitzen und seine Fantasie anzustrengen; ich wiederum habe gelernt, dass man die eigene Tochter bei strahlendem Sonnenschein leichter dazu bringt, ihr Zimmer aufzuräumen, als ein Kapitel abzuschließen. Wir haben uns beim Tippen abgewechselt und buchstäblich jeden Satz laut gelesen. Eine Zeile sagte ich, dann kam Sammy mit der nächsten. Am schönsten war es, wenn wir einander ins Wort fielen und feststellten, dass wir das Gleiche dachten – es war, als hätten wir denselben Traum und würden uns beim Schreiben telepathisch verständigen.
Manchmal, wenn ich ein tolles Buch lese, denke ich: »Wow, ich wünschte, ich hätte diese Handlung erfunden.« Ich fühlte mich richtig geehrt, dasselbe bei der Geschichte zu empfinden, die sich meine Tochter ausgedacht hat. Als Sammy mir das erste Mal von ihrer Idee erzählte, fand ich sie großartig. Ich hoffe, Ihnen geht es genauso, wenn Sie Mein Herz zwischen den Zeilen lesen.
W ie alles begann
Es war einmal in einem fernen Land, da lebten ein tapferer König und eine wunderschöne Königin, die liebten einander so sehr, dass die Menschen – wohin sie auch kamen – alles stehen und liegen ließen, nur um sie vorbeischreiten zu sehen. Bauersfrauen, die mit ihren Männern stritten, vergaßen auf einmal den Grund für den Streit; kleine Jungen, die im Begriff waren, kleinen Mädchen Spinnen in die Zöpfe zu setzen, versuchten stattdessen, einen Kuss von ihnen zu erhaschen; Maler brachen in Tränen aus, weil nichts von dem,
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