Aufgeflogen - Roman
Arme fest, sie wurde nur noch wütender.
»Lass mich raus, ich will weg.«
»Ich will dir wenigstens erklären …«
»Du möchtest mich kaufen.«
»Ich wollte dir eine Freude machen.«
»Verfluchter Geburtstag!«
Sie brach in Tränen aus. Ihre Wut war weg, so schnell wie sie gekommen war.
Ich nahm sie in den Arm. Strich ihr mit der Hand übers Haar.
Das hatte ich bisher nie gewagt.
Sie hob den Kopf, das Gesicht tränenüberströmt. Und dann küsste sie mich.
Ich hatte mir das immer so ausgemalt, dass ich sie irgendwann küssen würde, im Kino vielleicht oder wenn wir in der Sonne lagen. Es gab auch ein paar Anläufe, aber ich stellte mich besonders doof an. Als ob ich es verlernt hätte in diesen wenigen Monaten.
Dass sie die Initiative ergreifen könnte, auf die Idee wäre ich nie gekommen. Ich war so überrascht, dass ich fast vergaß, ihren Kuss zu erwidern.
Als sie das erste Mal bei mir übernachtete, gaben sich meine Eltern besonders locker. Frühstück im Familienkreis, noch etwas Kaffee, wir könnten uns doch duzen, ich könnte dir einen Pulli leihen, wir haben doch fast dieselbe Größe.
Sorry, Mom. Da täuschst du dich aber ganz gewaltig.
Ich ließ ihr alle ihre Geheimnisse. Ein paarmal fragte ich zu viel. Es war so leicht zu merken, wenn ich die Grenze überschritten hatte. Sie verkrampfte. Hatte ich meinen Arm um sie gelegt und stellte die falsche Frage, konnte ich spüren, wie sie verhärtete. Ganz langsam schloss sich die Tür und Isabels Innenwelt war vor meinen Angriffen geschützt. Ein weicher, warmherziger, liebevoller Mensch wurde innerhalb von Sekunden zur Festung. Dafür reichte ein Vorschlag wie: »Wirkönnten doch ein paar Sachen von dir bei mir deponieren.«
Ich wusste nicht, wo sie wohnte.
Ich kannte weder ihre Mutter noch ihre Freunde.
Irgendetwas stimmte nicht.
Oft war ich sauer, weil sie mir nicht vertraute.
Manchmal spürte ich die Versuchung, einfach mal in ihren Sachen zu wühlen, wenn sie bei mir war. Ich habe es nicht getan.
In der Schule lasen wir etwas über Orpheus. Er holte seine Frau aus der Unterwelt. Die Bedingung war, dass er sich auf dem Weg nach oben nicht nach ihr umdrehte. Er hat es doch getan und Eurydike für immer verloren.
Ich dachte, wenn ich Isabel nachspioniere, verliere ich sie für immer. Deshalb habe ich es gelassen.
Lange Zeit. Bis zu dem Tag, als wir über die Ampel gingen. Okay, das haben wir oft getan. Aber wir gingen bei Rot.
Bisher war sie immer stehen geblieben, wenn die Fußgängerampel rot war. Ich machte mich darüber lustig. In den abgelegensten Nebenstraßen warteten wir ewig auf Grün. Alle Passanten gingen an uns vorbei. Wir standen und standen. Fingen an zu streiten, weil mein Spott sie ärgerte. Sie sagte, es habe doch einen Grund, dass die Ampel da sei. Also müsse mansich daran halten. Ich warf ihr Obrigkeitshörigkeit vor. Sie sei zu verspannt. Sie gab mir keine Antwort. Starrte auf das rote Männchen.
An diesem Tag riskierte ich es. Wir schlenderten Hand in Hand. Ich sah, dass die Fußgängerampel rot wurde. Isabel bemerkte es nicht. Sie sah gerade mich an, verliebt, glücklich, offen. Ich grinste und zog sie auf die Straße. Weit und breit kein Auto. Was also sollte hier gefährlich sein?
Isabel bemerkte meinen Betrug an ihren Prinzipien erst, als wir eine Stimme hinter uns hörten.
»He, ihr zwei. Farbenblind oder was?«
Isabel starrte auf das rote Ampelmännchen, dann auf den Polizisten, der uns folgte. Der Blick auf mich war voller Panik, Enttäuschung und Verzweiflung. Dann riss sie sich von mir los und lief weg.
Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen.
3. Kapitel
Der erste Tag im Waldhaus nach einer schlaflosen Nacht. Die Sonne scheint, der See draußen glitzert, doch Isabel möchte nicht vor die Tür. Was ist, wenn einer der Nachbarn sie entdeckt? Vermutlich wissen doch alle, dass die Besitzer verreist sind.
Eugenia schläft noch, erschöpft von der Flucht. Isabel durchsucht die Schränke, sie mag diesen löslichen Kaffee nicht, den ihre Mutter nach ihrer Ankunft zubereitet hat. Sie findet einige alte Teebeutel: Minze, Kamille, schwarzer Tee. Sie entscheidet sich für Schwarztee, kocht Wasser.
Bereits nach wenigen Minuten ist es so, als wäre sie schon lange hier. Sie ist es gewöhnt umzuziehen, sich in einer neuen Umgebung einzuleben, das Waldhaus ist mindestens die zehnte Station in den vergangenen fünfzehn Jahren, seit sie in Deutschland ist. Kein Umzug war freiwillig, immer
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