Aufgelaufen
ergründen. Er horchte in Tonfolgen, zu denen alles vorantrieb und vorwärts ging, um irgendwann, irgendwo au s gespien zu werden oder unterzugehen, oder zu bleiben, was es war, oder nichts von alldem. Stunden blickte er auf die Ufer, hoffend auf Stillstand, um für seine Augen einen festen Punkt zu finden, um seine Sehnsucht nach einem Platz für sich selber zu stillen. Er suchte blicklos eine freie Fläche mit Bäumen oder Sträucher, in die er sich legen, in denen er sich bewegen konnte, in die hinein Sonne schien, auf ihn, in ihn, wo er Mond und Sterne für sich hatte, abgeschirmt von allem Übel der Welt; nur er für sich. Ein Traum … Und dann immer wieder die ewige Frage, warum alles so war, wie es war. Das Leben, der Sinn darin. Das Sterben, der Tod. Das eventuelle Danach … Manchmal waren die Straßen und Wege neben dem Fluss verschneit, und was er suchte, blieb dadurch und sowieso in weite Ferne gerückt. Auf dem Fluss gab es keine Wegweiser und es hätte sein können, dass er sich wegen des Schnees in sich und wegen der einbr e chenden Dunkelheit in seinem Hirn verlaufen könnte, wie ein nachtblinder Hund.
Nicht mehr nach Hause kommen, liegenbleiben nach hartem Kampf, verrecken in Erinnerungen, die ihn angreifbar machten, die ihn zur Fl a sche greifen ließen, um sie leer zu trinken.
So war es auch diesmal wieder, denn um ihn herum war kaum etwas zu sehen, nur offenes Land. Der Himmel schwarz bewölkt und dann wieder wolkenlos. Ein, zwei Meter über dem Wasser, über Boden und Bachläufen lagen Dunstschwaden wie dünne r Rauch. Dann sah er sie: Effie. Es übe r kam ihn das Nachdenken über Schuld und Schuldigsein. Das Sein im Spiegel des Lebens auf dem Klo, und letztlich über der Schüssel sein g e strandeter Kopf, um zu kotzen. Und was er hier tat, mit diesen Augen, den Ohren, dem Mund. Den elenden Falten drum herum, die seine exzessive Suche nach Glück bezeugten – und Frieden, womöglich. Oder kamen die vom Saufen? Im „Café Keese“, der „Großen Freiheit“. Sonst wo?
„Guste Szczecin“, stand am Kahn. Und er wollte dahin, nach Stettin, in seinen Heimathafen. Sein Deutsch war ohne jeden Akzent, obwohl er unter polnischer Flagge fuhr, und das hatte Gründe.
Der Kahn war ohne Ladung, sagte er später aus. In Wahrheit hatte er beim Löschen der Ladung die Schauerleute bestochen und vom russischen Wodka allerlei beiseite geschafft.
Das knappe Dutzend Kisten lagerte tief im Bauch des Kahns, wo es kühl war. Die Pullen verrieten sich auf ihre Art, denn sie gluckerte bei jedem Wellenschlag herausfordernd. Ein paar davon klangen hell, hoch im Ton, sie waren leer, anscheinend an Ort und Stelle ausgetrunken. Und genau darüber hatte es im Hafen Streit mit dem Steuermann gegeben, später auch mit dem Bootsmann, der gleich zuschlug. Seitdem fehlte von denen jede Spur. Davon unbeirrt blieb der Fluss, dessen Wasserpegel stieg auf immer neue Rekordwerte. Sämtliche Wasserwachtmeldungen entlang des Stroms überstürzten sich mit sensationellen Rapporten. Und als es für Mensch, Tier, Haus und Hof kritisch wurde, befüllten Hilfswillige Säcke mit Sand, um Deiche und unmittelbar betroffene Gehöfte zu sichern. Ei n gänge und Fenster von Häusern in umliegenden Dörfern wurden eilig mit aus Holz oder Stein hochgezogenen Schutzwällen zusätzlich verbarrik a diert.
Dem Fluss war das alles egal, der stieg unaufhaltsam. Und schon bald färbte Qualmwasser die Wiesen hinter den Deichen erst schmutziggrau, dann tintenblau. Fast wie Öl sah es aus, höchste Gefahr signalisierend. Daraufhin wurden die direkt am Deich wohnenden Bewohner evakuiert, wurden blökendes Vieh und Gerätschaft aus überschwemmten Ställen in höher gelegenes Gebiet gebracht, derweil die immer hektischer werdenden Stimmen der Radiostationen halbstündlich warnten, wenig später sogar im Zehnminutentakt. Erfreulich war, dass kaum einer der Sensationstromp e ter Zei t fand, die nervenden Produktwerbungen zu senden. Einige der Reporter waren schon vor Ort und, wegen der Berichte über den erst kür z lich erfolgten Atommülltransport ins Endlager Gorleben beinahe wie zu Hause. Abends, in der Kneipe eines flussnahen Dorfs, fantasierten sie hochgestimmt von Bier und Schnaps von Prügelorgien der Polizisten beim letzten Castoreinsatz. Von „herrlichen“ Bildern, die möglich geworden waren, weil die Rot-Grün-Regierung Transparenz und Öffnung zum Bü r ger wünschte, und das eine wie alles andere erfolglos seit Jahren, wie sie
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