Aufgelaufen
wie gehabt.
Er nannte sich Pierre.
Vor Stunden war er vollgesoffen aus den Bars und Hurenhäusern der Stadt gekrochen. Sein Gesicht, eine blutarme Scheibe, hing vom Sprit aufgeblasen unter der Mütze. Der Körper, sonst von Arbeit gut im Stahl, nun, im nahen Entzug, schlotterig wie Nebel im Wind. Und der ranzige Torso tat mitnichten, was er sollte. Der zitterte. Und Pierre wusste, dass er einer schrottreifen Fahnenstange eher glich, als einer menschlichen E r scheinung. Doch es war ihm egal, alles egal, denn seine Seele hatte sich in zig Wiederholungen genommen, was sie brauchte. Auch jetzt wieder.
Ja, so weit gingen sein Humor und sein Wissen, dass es nicht das erste Mal in dieser Woche zu solchem Exzess gekommen war. Es war schon hunderte oder tausende Male in den zwölf, dreizehn, vierzehn oder gar achtzehn Monaten zuvor passiert. Und wenn man richtig zählte, Millionen Male seit seiner Geburt.
War es vorbei, lag er wie tot da, stumm, die Fresse, der ganze Körper wie von Gas aufgedunsen und aus allen Poren übel stinkend, dann summte er sich tröstend ein Kinderlied: „Wir sind alle kleine Sünderlein, es war immer so, war immer so, wir sind alle kleine Sünderlein ...“
Ach was, Sünderlein. Jeder ging Wege, die ihm bestimmt waren. Tra m pelpfade durchs Leben, die irgendwer ausgesucht hatte. Und, dachte er, wer überlegt schon wirklich, was er zwanghaft tut, um im rundum sinnl o sen Projekt Leben existieren zu können. Wer?
Eines wusste er nach seinen Exzessen dagegen mit Sicherheit: Es war ihm wohler als zuvor. Mehr noch – er fühlte nie Bedauern, dass er so el e mentar toben und wüten musste, um Erleichterung und Frieden zu finden; in diesem Scheißleben, ohne Effie. Und genau deshalb brachen die Reste von Hirn und Herz und das Teil in der Hose zu immer neuen Protesttaten auf. Wiederholungen eben.
2
Hochwasseralarm. In Deutschlands Flüssen stiegen die Pegel. „Jahrhu n dertflut“ schrieben die Zeitungen, dudelte es aus Radios, grinste es aus dem Fernseher. Und alle waren froh über die folgenden Sensationen.
Pierre kam mit seinem Frachter aus Hamburg, die Elbe hoch. Oh ja, die Strecke war er schon zig Male gefahren, und doch wusste er nicht, woher der Fluss kam und wohin er lief. Dass der irgendwo hinter Hamburg ins Meer versickerte, dass wusste er, wo genau das geschah, dagegen nicht. Und eigentlich war es ihm egal, denn alle Flüsse kommen irgendwoher und fließen irgendwohin, so wie alles Leben von irgendwoher kommt und dann vergeht. So wie rund um Oder, Spree und Havelkanal, auf denen er tagein tagaus fuhr. Er tat einfach seine Arbeit, und vertickte ein bisschen was nebenbei. Andere Dinge interessierten ihn nicht wirklich, denn er hatte schon zu viel gesehen, getan und hinter sich, und auch wieder nicht. W enn die Erinnerungen daran ihn beutelten, die Sehnsucht, stemmte er sich gegen sie , und es war auch deshalb in seinem ständigen Kampf kein Platz für Neues.
Pierre kannte auch kein schlechtes Wetter, besser: er ließ es nicht zu. Bisher war er an kalten Tagen, wie auch an milden, an heißen, an Tagen mit Regen, Gewitter und Sturm, Eis und Schnee, in Blühen und Vergehen auf dem Fluss unterwegs gewesen. Und bisher hatte er auch keine erzä h lenswerten Ereignisse auf den Wasserstraßen erlebt, die ihn aber, wenn er Zeit hatte, gerade dahingehend abenteuerlustig denken ließen. Doch nichts passierte, nicht mal im Kopf – und das war gut so.
Pierre schipperte also ohne große Ereignisse Richtung Hamburg, kreuzte von Stettin kommend Berlin, und in umgekehrter Reihenfolge ging es von vorne los. Ebbe und Flut, Sonne und Mond, Leben wie seins. Nur ab und an beobachtete er mit seinem Fernglas auf dem Wannsee in Berlin Pä r chen auf Segel- und Motorbooten beim Liebemachen und, notgeil wie er war, wichste er sich davon animiert durch die unerreichbaren Stationen seiner Sehnsüchte. Sein Leben lief also mit dem Fluss wie an einer Perle n schnur, und nur an wenigen Tagen war der Strom vereist oder brachte ihn durch Pegelhochstand ein wenig aus dem Rhythmus.
Doch nur einmal in den bisherigen Jahren musste er den Naturkräften Tribut zollen; lag er Tage im Berliner Westhafen fest. Es war nicht die schlechteste Zeit mit Wein, Weib, Gesang, wie Steuer- und Bootsmann lange später noch schwärmten.
Ab und an hörte er, am Steuerrad stehend, und während der Motor leise wie im Selbstgespräch lief, in die Melodie des Flusses hinein, als wollte er dessen Geplätscher als Sprache
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