Auge um Auge (German Edition)
ich jeden Tag mit der Fähre zur Schule gefahren und zurück. Zusammen mit ihm.
Kat schüttelt den Kopf und sagt: »Reeve.«
Ich mache große Augen. Es macht mich nervös, dass sie es so schnell rausgefunden hat, andererseits finde ich es auch sonderbar tröstlich. »Woher weißt du das?«
»Wer sollte es denn sonst sein?«, sagt Kat und hält mir die Klotür auf. »Und wenn man so lange hier wohnt wie wir ...«
Ich stehe auf.
Lillia geht wieder zum Waschbecken und macht ein Papiertuch nass. »Es überrascht mich nicht. Reeve ist im Grunde ein Steinzeitmensch«, sagt sie und tupft an dem Fleck auf ihrem Pullover. »Er hat meinen Pullover ruiniert.«
Vorsichtig sage ich: »Ich dachte, ihr wärt Freunde. Ich habe euch heute Morgen zusammen gesehen.«
Lillia seufzt. »Freunde sind wir nicht, aber auch nicht das Gegenteil.«
Kat verdreht die Augen. »Tolle Antwort, Lillia.«
»Bitte sagt ihm nicht, dass ihr mich hier gesehen habt«, sage ich schnell.
Das Letzte, was ich brauchen kann, ist, dass Reeve erfährt, dass er mich immer noch zum Weinen bringt .
Die Schulglocke läutet, und Lillia zieht einen Labello aus der Tasche ihrer Shorts und streicht sich damit über die Unterlippe. Dann presst sie die Lippen aufeinander und öffnet sie mit einem Plopp. »Keine Sorge, ich hab deinen Namen schon vergessen.« Und mit einem Blick auf Kat sagt sie: »Ich muss los.« Damit geht sie raus.
Kat sieht ihr nach, und als die Schwingtür zufällt, sagt sie leise zu mir: »Sag mal – Lillia hat geweint, oder?«
Ich blicke auf meine Sandalen. Das geht eigentlich niemanden was an. Ich hätte ja eigentlich gar nicht hier sein dürfen.
»Weswegen war sie so aufgeregt? Hat sie irgendwas gesagt?«
»Nein, nichts.«
Kat seufzt enttäuscht. »Wo solltest du jetzt sein, Mary?«
»Ich weiß es nicht mal.«
»Wo hast du deinen Stundenplan?«
Ich schaue in meine Tasche, kann ihn aber nicht finden. »Hm – ich glaube, ich habe jetzt Chemie.«
Sie streicht sich den Pony aus der Stirn und sieht mich nachdenklich an. »Warte mal, du bist doch Senior, oder? Dann müsstest du Chemie doch schon abgeschlossen haben.«
Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. »Am Ende der Siebten bin ich richtig krank geworden, deshalb musste ich ein Jahr wiederholen.«
»Das ist ja beknackt. Na ja, wie auch immer – die naturwissenschaftlichen Räume sind drüben auf der Ostseite. Wenn du nicht zu spät kommen willst, musst du rennen.« Sie schweigt einen Moment. Dann sagt sie: »Hör zu, lass dich von diesem Mistkerl nicht fertigmachen. Der kriegt sein Fett schon noch weg. Das Karma ist ein raffiniertes Biest.«
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Ich meine, ich würd’s ja gerne glauben. Aber Reeve scheint es gut zu gehen. Ich bin doch die, die sich den ganzen Morgen lang auf der Toilette versteckt.«
»Er ist es nicht wert«, antwortet sie. »Keiner von denen. Glaub mir.«
Ich bin ihr dankbar und sage es ihr. Sie ist der erste Mensch, der heute wirklich mit mir gesprochen hat.
Ich gehe hinter ihr her aus der Toilette. Sie dreht sich nach links und geht den Flur hinunter. Möglichst unauffällig sehe ich ihr nach, für den Fall, dass sie sich noch einmal umdreht.
Tut sie aber nicht.
06 LILLIA Alle Mädchen, die sich als Cheerleader bewerben, warten in knappen Shorts und Trägerhemdchen auf der Tribüne am Footballfeld. Nadia sitzt mit ihren Freundinnen in der ersten Reihe. Ich schicke ihr ein Lächeln, und sie lächelt vorsichtig zurück. Ich bin erleichtert, dass sie mir meinen Kommentar zu ihrem Flickflack anscheinend nicht übel genommen hat.
Rennie steht mit Christy, unserer Trainerin, vor den Mädchen. Ashlin und ich warten an den Seitenlinien. Wir alle – auch Rennie – tragen unsere Uniformen, als wären wir Models: Ärmellose Oberteile mit einem aufgenähten J auf der Brust , dazu kurze Faltenröcke mit passenden Pumphosen und Sneakersocken mit winzigen farbigen Bällchen an der Ferse. Es fühlt sich gut an, meine Uniform mal wieder zu tragen, das muss ich zugeben.
Als Christy noch einmal in ihr Büro muss, um die Einverständniserklärungen der Eltern zu kopieren, tritt Rennie in Aktion. Sie lässt den Blick über die Tribüne schweifen, dann sagt sie leise: »Okay, ich sag euch jetzt, worauf es ankommt: Wer Cheerleader für die Mannschaft der Jar Island High sein will, muss sich auch immer und in allen Lebenslagen wie ein Cheerleader der Jar Island High verhalten – tadelloses Aussehen, tadelloses Verhalten. Das hier
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