Auge um Auge (German Edition)
sowieso nicht merken, hatte sie gesagt. Außerdem werde auf der Insel sowieso nichts geklaut, ihre Sachen seien also sicher.
Als sie mir später am Tag im Flur entgegenkam, waren ihre Augen rot, und die Kette hatte sie nicht an. Ihr Anhänger war ein goldenes Schlüsselchen. Was mir daran gefallen hatte, war, dass es einerseits hübsch war, andererseits aber auch etwas Handfestes und Praktisches darstellte. Diese Mischung passte perfekt zu Kat.
Sie lief einfach an mir vorbei.
Später versuchte ich, das Thema bei Rennie anzuschneiden.
Ich wollte wissen, ob es eine Möglichkeit gab, die Dinge wieder hinzubiegen, damit alles wieder so würde wie früher.
Aber Rennie stellte sich stur: Sie weigerte sich, auch nur über das Thema zu reden. Für sie war die Sache gelaufen. Thema erledigt. Ausgelöscht.
Das ist so ihre Art. Was ihr nicht gefällt, löscht sie. Aber dass sie dabei über Leichen geht und selbst Personen gnadenlos auslöscht, das war mir neu.
···
Ich trockne mir das Gesicht mit einem Papierhandtuch. Dann drehe ich mich zur Seite, um das Tuch in den Müll zu werfen, und als ich mit dem Rücken zu Kat stehe, sage ich: »Übrigens, ich fand nie, dass du Mundgeruch hast. Ganz ehrlich.«
Mir wird klar, dass ich eben vermutlich zum ersten Mal seit Jahren etwas zu Kat gesagt habe, jedenfalls mehr als nur Hallo .
Kat starrt mich an, und ich weiß, sie ist überrascht.
In dem Moment ist aus der hintersten Kabine ein Geräusch zu hören. Flaches Atmen, wie von jemandem, der weint und deshalb nur schlecht Luft kriegt.
Sofort drehen Kat und ich beide den Kopf in die Richtung. »Wer ist da?«, rufe ich in Panik, so als wäre ich bei etwas Schlimmem erwischt worden.
»Wer ist da drin?«, fragt Kat.
Keine Antwort.
Kat geht zu der Kabine und tritt mit ihrem Stiefel die Tür auf.
05 MARY Ich hocke auf dem Klodeckel, die Knie an die Brust gezogen.
Die Kabinentür fliegt auf, und das spuckende Mädchen von heute früh starrt mich an. Neben ihr steht die hübsche Asiatin. Auf ihrem weißen Pullover ist vorn ein großer Fleck.
»Wer bist du?«, fragt die Erste.
»Ich bin Mary.« Ich schlucke heftig. »Freut mich, euch kennenzulernen.«
»Gleichfalls«, antwortet sie trocken.
»Und wie heißt ihr?«
Mit dieser Frage haben die beiden anscheinend nicht gerechnet.
»Ich bin Kat«, sagt die, die die Tür eingetreten hat. »Und das ist Prinzessin Lillia.«
Die Asiatin sieht sie böse an und sagt: »Einfach nur Lillia.« Dann sieht sie mich fragend an. »Wieso versteckst du dich hier?«
»Ähm – nur so.« Es fällt mir schwer, ihr in die Augen zu sehen, nachdem ich geschlagene zehn Minuten zugehört habe, wie sie geheult hat. Das kann doch nicht sein, denke ich, jemand der so hübsch und beliebt ist, kann einfach keinen Grund zum Weinen haben. Aber worum auch immer es gehen mag, es muss richtig schlimm sein.
Lillia wirft die Haare nach hinten. »Es sieht so aus, als wärst du völlig durcheinander. Oder macht es dir einfach Spaß, anderen Leuten auf Toiletten hinterherzuspionieren?«
Kat lehnt lässig an der offenen Tür. »Lass mich raten. Du hast im Sommer mit irgendeinem Typen rumgemacht. Hast dich von ihm betatschen lassen, und jetzt weiß er auf einmal nicht mal mehr, wie du heißt, stimmt’s?«
»Vollkommen daneben«, sage ich und beiße mir auf die Lippe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich gerade diesen beiden irgendwas erzählen sollte. Immerhin gehört Lillia zu Reeves Clique. Sie sind befreundet. Und Kat ... die macht mir einfach Angst. »Ich habe jemanden gesehen, den ich früher gekannt habe. Das ist alles«, murmle ich dann.
»Wen?«, fragt Kat. Sie wird mich nicht vorbeilassen, bevor ich ihr nicht alles erzählt habe, das sehe ich an der Art, wie sie an der Tür lehnt.
»Diesen Kerl. Er ... hat mich gequält, als wir in der Siebten waren. Er hat es geschafft, dass die ganze Stufe mich gehasst hat. Seinetwegen ist meine Familie von hier weggezogen. Jedenfalls habe ich ihn heute wiedergesehen, das erste Mal seit vier Jahren, und er hat mich nicht mal erkannt. Nach allem, was er mir angetan hat.« Eine Haarsträhne fällt mir ins Gesicht, ich streiche sie mir hinters Ohr.
»Wie alt bist du?«, fragt Lillia, dieses Mal klingt ihre Stimme leiser und sanfter.
»Siebzehn.«
»Und du kommst also ursprünglich von hier?«, will Kat wissen. »Auf welcher Mittelschule warst du denn?«
»Ich bin von hier, ja, aber ich war auf der Belle Harbor, der Montessorischule auf dem Festland.« Damals bin
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