Auge um Auge (German Edition)
gibt einen kleinen Flughafen mit einer einzigen Piste, doch den nutzen nur reiche Leute mit Privatflugzeugen. Ansonsten kommt nichts und niemand auf die Insel oder von ihr weg ohne diese Fähre.
Ich nehme meine Koffer und gehe hinter den übrigen Passagieren her an Land. Vom Anleger aus kommt man direkt ins Begrüßungszentrum. Ein alter Schulbus aus den 40 er Jahren mit der Aufschrift »Jar Island Tours« steht davor und wird gerade gewaschen. Gleich hinter dem Zentrum verläuft die Hauptstraße – eine idyllische Ansammlung von Souvenirläden und kleinen Restaurants. Und über allem erhebt sich der große Hügel von Middlebury.
Ich finde nicht sofort, was ich suche, erst muss ich zum Schutz vor der Sonne eine Hand über die Augen legen, doch dann entdecke ich weit oben das schräge rote Dach unseres alten Hauses.
In dem Haus ist meine Mutter aufgewachsen, zusammen mit Tante Bette. Mein Zimmer war früher das von Tante Bette; das Fenster geht zum Meer. Ob sie wohl wieder dort schläft, seit sie zurück ist?
Ich bin ihre einzige Nichte, und eigene Kinder hat sie nicht. Sie wusste nie richtig, wie sie mit Kindern umgehen sollte, also hat sie sie einfach wie Erwachsene behandelt. Mir gefiel das, ich fühlte mich dann gleich so viel größer. Sie fragte mich oft nach meiner Meinung zu ihren Bildern und hörte mir auch tatsächlich zu. Sie war nie eine dieser Tanten, die mit mir Kekse backen wollten oder sich zu mir auf den Boden hockten, um mir bei einem Puzzle zu helfen. Aber das fand ich auch nicht weiter schlimm – dafür hatte ich ja schon meine Eltern.
Es wird bestimmt toll, bei Tante Bette zu wohnen, jetzt, wo ich älter bin. Meine Eltern behandeln mich beide noch wie ein kleines Kind. Zum Beispiel muss ich noch immer um zehn zu Hause sein, obwohl ich inzwischen siebzehn bin. Andererseits – nach allem, was passiert ist, liegt es wohl auf der Hand, dass sie mich seitdem so überbehüten.
Der Weg zum Haus dauert länger, als ich ihn in Erinnerung habe. Vielleicht liegt das aber auch nur an meinen Koffern, dadurch gehe ich einfach langsamer. Von Zeit zu Zeit, wenn Autos die Steigung hinauftuckern, strecke ich den Daumen raus. Unter den Einheimischen auf Jar Island ist es durchaus normal, per Anhalter zu fahren; jemanden mitzunehmen gilt als Nachbarschaftshilfe.
Mir war Trampen immer verboten, aber heute haben mich ja keine Mom und kein Dad im Blick – zum ersten Mal. Allerdings hält niemand an, so ein Mist, aber irgendwann klappt auch das. Ich habe alle Zeit der Welt, um zu trampen und auch sonst zu tun, was ich will.
Ohne es zu merken, bin ich an unserer Einfahrt vorbeigelaufen und muss wieder kehrtmachen. Die Büsche sind so groß und dicht geworden, dass man das Haus dahinter gar nicht mehr sieht. Aber das überrascht mich nicht, um den Garten hat sich schließlich immer meine Mutter gekümmert, Tante Bettes Ding war das nicht.
Ich schleife die Koffer über die letzten Meter, während ich den Blick übers Haus schweifen lasse. Es ist im Kolonialstil gebaut, dreistöckig, mit weißen Fensterläden und einer Steinmauer rings um den Garten. In der Einfahrt steht Tante Bettes alter brauner Volvo, übersät mit winzigen lila Blüten. Der Flieder! Er ist noch größer, als ich es für möglich gehalten hätte. Und obwohl schon so viele Blüten abgefallen sind, biegen sich die Äste noch immer unter dem Gewicht von Millionen anderer. Ich atme so tief durch, wie ich kann.
Es ist gut, nach Hause zu kommen.
L ILLIA Es ist wieder so weit: Ende August, nur noch eine Woche, dann geht die Schule wieder los. Der Strand ist voller Leute, aber nicht so überfüllt wie am Nationalfeiertag im Juli.
Ich liege mit Rennie und Alex auf einer großen Decke. Reeve und PJ spielen Frisbee, Ashlin und Derek schwimmen im Meer. Das ist meine Clique, schon seit der Neunten. Ich kann’s kaum glauben, dass wir jetzt endlich Seniors sind.
Die Sonne ist so intensiv heute, ich spüre richtig, wie meine Haut immer mehr diesen goldbraunen Ton annimmt. Wohlig wühle ich mich in den Sand. Ich liebe die Sonne.
Alex neben mir cremt schon wieder seine Schultern ein.
Rennie blickt von ihrer Zeitschrift auf. »Mann, Alex, kannst du vielleicht mal deine eigene Sonnenmilch mitbringen? Meine ist schon halb leer. Nächstes Mal lass ich dich einfach Krebs kriegen.«
»Soll das ein Witz sein?«, fragt Alex. »Die Flasche hier hast du bei mir zu Hause mitgehen lassen. Sag, dass ich recht hab, Lil.«
Ich stütze mich auf einen Ellbogen und
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