Auge um Auge - Moonbow #1 (German Edition)
Geld verkauft hatte und die Arbeit an Computern leid war. Ihm war klar, dass der entstehende Rummel um ihre Person ihrem sehr sanften Gemüt nicht guttun würde, sondern, ganz im Gegenteil, ihr stets heiteres und gutmütiges Wesen über kurz oder lang verwelken lassen würde wie ein zartes Vergissmeinnicht ohne Wasser.
Eigentlich war sie nicht geschaffen für diese harte und kalte Welt.
Er zog einen Schlussstrich und siedelte mit Ruby in einen kleinen Ort am anderen Ende von Neuseeland um. Er eröffnete eine neue Praxis unter anderem Namen und fühlte sich wieder sicher. Ruby war aus der Schusslinie, das öffentliche Interesse an ihr erlosch, wie immer, wenn die Medien keine neuen Informationen bekamen. Sie verstand, warum sie ihre Gabe nach außen hin nicht zeigen durfte und sie hielt sich daran.
Ihr Leben verlief wundervoll, bis sie vor vier Jahren in einer einzigen Nacht alles verloren.
»Piri?«
Views Stimme drang an seine Ohren und holte ihn schlagartig aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Tränen liefen ihm über die Wangen. Braxton sah auf die Uhr. Er durfte nicht mehr zögern. View brauchte seine Hilfe, das hörte er mehr als deutlich. Sie klang, als würde sie um ihr Leben bangen. Außerdem vertraute sie ihm nach wie vor und das durfte er nicht länger ausnutzen, auch wenn er damit Ruby unsägliche Schmerzen bereiten würde.
»Hallo meine liebe View.« Er flüsterte, obwohl es sinnlos war. Jedes seiner Worte wurde vom Computer aufgezeichnet.
»Piri, o Piri, zum Glück gibt es dich noch. Du bist da.«
Ihr Schluchzen zerriss ihm das Herz in winzige Muskelfetzen. Was hatte sie bloß Schreckliches in den vergangenen sechs Tagen durchleben müssen? Touch war inzwischen gedanklich wieder auf der Station gelandet, wie er sich durch einige Zurufe zwischen dem Laborarzt und Max auf dem Flur zusammenreimen konnte. Man hielt ihn wie eh und je von allen Informationen auf der Station fern, doch nach all den Jahren und dem Wissen um Views Gabe und den Experimenten an ihr, der Entführung seiner Tochter und der von Touch, hatte er sich sein eigenes Puzzle von Max’ Zielen zusammengebastelt. Ob es stimmte, wusste er nicht, aber erschreckend war es, daran hegte er keinerlei Zweifel.
Seine zartbesaitete View war nun also mutterseelenallein da draußen unterwegs. »Natürlich bin ich da, View. Immer, das weißt du doch.« Er musste nun sehr vorsichtig und feinfühlig vorgehen. Auch wenn er alles Tausende Male bereits gedanklich durchgegangen war, so zitterten ihm nun dennoch die Finger und seine Zunge fühlte sich taub an.
Mit jedem falschen Wort – die Liste der Codewörter war ihm unbekannt – würde seine Ruby automatisch einen Stromschlag erhalten. Jedes Mal, wenn er View etwas sagte, was er ihr nicht sagen durfte, würde sein Baby leiden müssen. Es war nur Max’ Drohung, die er vor vier Jahren einmal ausgesprochen hatte, doch es gab keinen Grund, daran zu zweifeln. Der Mann war größenwahnsinnig und skrupellos, dazu äußerst intelligent, gerissen und verrückt, und reich genug, seinen kranken Plan auch noch durchzuziehen.
»Piri, bitte, hilf mir. Ich bin auf einem kleinen Boot. Der Sturm, es wird kentern.«
Die Furcht in ihrer dünnen Stimme schnürte ihm die Kehle zu. »Bist du allein, View?«
»Ja, ja, Zac ist … er ist …«
»Schon gut, View. Hör mir bitte genau zu.«
»Piri, ich …«
Er musste Touch erwähnen, musste View sagen, dass auch er Bescheid wusste. Seine Lippen zitterten, weil er beinahe selbst spürte, wie Ruby nun vor Schmerz schrie. »View, bitte. Hör zu. Was hat Touch dir erzählt?«
»Was?« Sie holte tief Luft. »Wer? Zac heißt …?«
»Ja, er heißt hier so. Alles, was er dir erzählt hat, stimmt.« Er vermied das Wort Wahrheit, die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Codewort war, war hoch. »Glaube ihm, bitte, du kannst ihm alles glauben. Du weißt dann, was ich bin. Ich … es tut mir so leid. Ich liebe dich wie eine To…«
»Piri«, krächzte sie leise. Eine Weile herrschte beängstigende Stille. Sie versuchte, seine Worte zu verstehen. Er wusste um ihre schnelle Auffassungsgabe, doch konnte er nicht einschätzen, inwieweit sie sich auch innerlich von der Manipulation befreit hatte, außerdem war sie in dieser Extremsituation wahrscheinlich noch eingeschüchterter und unsicherer als sonst. Viel zu sensibel und zu weich, um Neid, Hass, Boshaftigkeit und auch den Naturgewalten zu trotzen. Er schluckte hart. Was konnte er bloß tun, um ihr zu helfen?
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