Auge um Auge
sollte. Als ihre Mutter sah, dass Rennie auf keinen Fall weggehen würde, hat sie schließlich nachgegeben.
»Egal, jedenfalls trifft sie sich jetzt dauernd mit diesem Rick, einem Typen vom Festland.« Rennie zieht eine Grimasse. »Der nennt sich Restaurantbesitzer, dabei hat er bloß einen Sandwichladen oder so was Ähnliches. Mom ist praktisch jedes Wochenende da und gibt ein Vermögen für die Fähre aus. Außerdem hat sie ein paarmal einen Maklerkurs besucht. Ich wette, sie kündigt den Vertrag für ihre Galerie noch vor Juni.«
»Deine Mutter könnte die Galerie nie aufgeben, dafür hängt sie doch viel zu sehr daran.«
»Sie hängt daran, das stimmt, aber in letzter Zeit waren wir extrem knapp bei Kasse«, sagt Rennie. »Vergiss nicht, seit ich achtzehn bin, bleiben die ohnehin seltenen Unterhaltsschecks von meinem Erzeuger ganz aus.«
Dazu sage ich lieber nichts. Ich weiß nie so richtig, wie ich reagieren soll, wenn Rennie ihren Vater erwähnt. Er ist auf und davon, als sie drei war, und seitdem hat sie ihn nur zweimal gesehen. Früher hat er sie noch an ihrem Geburtstag angerufen, aber seit er wieder geheiratet hat und Kinder mit der neuen Frau hat, ist damit auch Schluss. Inzwischen wohnt er irgendwo in Arizona. Rennie spricht selten von ihm, und wenn, dann nennt sie ihn nur ihren Erzeuger.
Sie seufzt. »Es ist echt verrückt – wenn wir nächstes Jahr in den College-Ferien nach Hause kommen, dann wohnen wir nicht mehr gerade mal zehn Minuten voneinander entfernt. Dann ist das Meer zwischen uns.«
Erleichtert, dass sie nicht mehr über Geld oder ihren Vater redet, sage ich: »Ihr zieht doch nicht in ein anderes Land. Die Überfahrt mit der Fähre ist doch keine große Sache.«
»Es ist eine große Sache, und das weißt du auch«, sagt Rennie. »Das verändert alles.«
Darüber hatte ich schon nachgedacht, bevor alles so vertrackt wurde zwischen uns. Wenn wir erst aufs College gehen, dann werden wir uns auseinanderleben. Dann sind wir nicht mehr so aufeinander angewiesen. Vielleicht ist das ja gut, und wenn Rennie in den Ferien nicht auf der Insel ist, macht es alles einfacher.
Die Wohnanlage besteht aus drei gleichen Gebäuden, die um einen Innenhof mit einem kleinen Pool herum angeordnet sind. Auf unserem Weg zu Rennies Eingang kommen wir daran vorbei. Solange Rennie hier wohnt, bin ich kein einziges Mal mit ihr im Wasser gewesen. Es wäre mir komisch vorgekommen, vor den Küchenfenstern von hundert Leuten zu schwimmen. Außerdem ist unser eigener Pool glatt dreimal so groß. Deshalb schwimmen wir immer bei mir.
Rennie kramt noch nach ihrem Schlüssel, als die Tür zu ihrem Apartment auffliegt. Ms. Holtz hat sich die Haare aus dem Gesicht gefönt. Sie trägt ein grau-weißes Wickelkleid, eine Kette aus dicken Kugeln, dazu silberne Kreolen. »Wie seh ich aus?«, fragt sie und dreht sich vor uns im Kreis.
»Schick!« Rennie kneift die Augen zusammen. »Aber du brauchst einen anderen Lippenstift, etwas Knalligeres.«
»Und ich glaube, das Preisschild ist noch dran«, sage ich. Ich hole die Schere aus der Besteckschublade und trenne es ab.
»Den Tipp muss ich unbedingt deiner Mutter geben, Lillia«, sagt Ms. Holtz. »Lauter Designermode. Sieh mal aufs Preisschild. Dieses Kleid von Diane von Fürstenberg hat ursprünglich fünfhundert Dollar gekostet, und ich hab’s für sechzig gekriegt.«
Rennie stöhnt auf. »Ich hab’s dir doch schon mal gesagt, Mom. Das Modell ist schätzungsweise zwei Jahre alt. Stimmt’s, Lil?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sage ich, obwohl Rennie recht hat. Mom hat eine Bluse aus dem gleichen Stoff, aber die trägt sie nicht mehr. »Es sieht toll aus an dir.«
»Danke, Schätzchen.« Ms. Holtz dreht mich zu sich und haucht mir zwei Luftküsse auf die Wangen. »Wisst ihr was? Ihr zwei solltet unbedingt heute Abend bei mir in der Galerie vorbeischauen. Ich zeige Glasmalereien eines fantastischen örtlichen Künstlers, lauter Wassermotive.« Anscheinend sehen weder Rennie noch ich besonders begeistert aus, denn sie fügt hinzu: »Wenn ihr versprecht, dass ihr hinten im Büro bleibt, dürft ihr auch ein bisschen Wein trinken.«
»Mal sehen«, sagt Rennie, doch der Blick, den sie mir heimlich zuwirft, sagt: Ausgeschlossen. Alkohol lockt uns nun wirklich nicht. Erstens ist Wein eklig, und zweitens hat Rennie mindestens drei Flaschen Vanille-Wodka unter ihrem Bett versteckt. Den kriegt sie von den Barmännern im Bow Tie.
Ms. Holtz ordert Pizza für uns – halb Pilze und
Weitere Kostenlose Bücher