Auge um Auge
denn noch?«, frage ich Kat.
Bevor Kat mir noch antworten kann, bückt sich Lillia und hebt einen großen Stein auf, der unter einer der Kübelpflanzen liegt, die die Einfahrt säumen. Im nächsten Moment schleudert sie den Stein in das hintere Fenster von Alex’ SUV . Mit einem Mal wird es hell, denn das Mondlicht spiegelt sich in zahllosen Scherben. Der Klang von zersplitterndem Glas hallt durch die Nacht.
Kat und ich halten beide die Luft an. Das eben gehörte definitiv nicht zu unserem Plan.
Im Haus gehen die Lichter an. Erst im oberen Stockwerk, dann zu beiden Seiten der Haustür.
»Scheiße! Weg hier«, brüllt Kat.
Lillia rennt auf dem kürzesten Weg zu Kats Auto, wie ein Banner wehen ihre langen schwarzen Haare hinter ihr her. Sie springt herein und schreit: »Fahr schon!«
Mit quietschenden Reifen rasen wir davon. Erst als wir ein paar Blocks entfernt sind, kreischt Kat: »Was sollte das denn, verdammt noch mal?«
Lillia antwortet ihr nicht. Sie dreht sich um und schaut noch einmal zurück auf Alex’ Haus. Sie atmet heftig, an der Wange hat sie einen feinen Schnitt. Offenbar wurde sie von einem Stück Glas getroffen.
»Lillia! Du blutest«, sage ich.
Sie streicht sich mit der Hand über die Wange und betrachtet sie dann. »Nur ganz leicht«, sagt sie. Unsere Blicke treffen sich, und Lillia blinzelt überrascht. »Ich glaub, mit mir sind die Pferde durchgegangen, wie?«
»Allerdings!«, tönt Kat. »Wahnsinn, das war echt geil! Sieht ganz so aus, als müsste da jemand morgen mit dem Bus zur Schule fahren!« Sie dreht das Radio voll auf und fängt an, wie wild auf ihrem Sitz abzutanzen.
Lachend schmeiße ich die Hände in die Luft, so als säßen wir in der Achterbahn.
»Nimm du mal das Steuer«, brüllt Kat. Adrenalin jagt mir im Takt mit der Musik durchs Blut. Wir fliegen dahin. »Ich will sehen, was da im Notizbuch steht.«
Lillia lehnt sich hinüber und greift nach dem Steuer, während Kat das Notizbuch aufschlägt. »Das Ding ist ja voll von Gedichten!« Ihre Stimme übertönt jetzt die Musik und den Wind. »Alle deine Türen sind verschlossen. Keiner meiner Schlüssel passt. Der längste der Flure führt zu dir, doch nie erreiche ich das Ende.«
»Was für ein Kitsch!«, kreische ich.
Kat liest weiter, schnappt zwischendurch nach Luft. »Langer, langer Flur. Der längste Flur.«
»Wow«, sagt Lillia, »der ist aber echt lang, dieser Flur.«
Wir grölen vor Lachen.
»So, aber was machen wir jetzt damit?«, frage ich.
»Ich weiß, was wir machen können«, sagt Kat, als sie in Lillias Straße einbiegt. »Ich mach Kopien von diesen schmalzigen Gedichten, und die verteilen wir dann überall in der Schule.«
Lillia bricht fast zusammen vor Lachen. »Kat, ich wusste, dir würde was Tolles einfallen.«
Ich beuge mich vor und frage: »Wartet mal, was passiert denn jetzt mit dem Retinol?«
Lillia steigt aus. »Also, morgen hat er auf jeden Fall seine Sporttasche dabei. Die Mannschaft trainiert diese Woche jeden Tag zweimal. Ich muss nur eine Möglichkeit finden, in die Umkleide der Jungs zu kommen.«
»Der wird aussehen, als hätte er Lepra!«, kräht Kat.
Lillia lacht quiekend und läuft rückwärts die Einfahrt hoch zu ihrem Haus. »Nacht, Mädels!«
»Gute Nacht!«, rufe ich. Genau das ist es nämlich. Nein – es ist eine unglaubliche Nacht.
16 LILLIA Als es läutet, sage ich Ashlin, sie solle schon einmal vorgehen zum Mittagessen, ich müsse noch bleiben, um mit Mr. Franklin über den Test zu reden. Ich warte, bis sie um die Ecke gebogen ist, dann sprinte ich zur Sporthalle.
Die Umkleide der Jungen ist zwar leer, aber womit ich nicht gerechnet hatte – die Footballer haben keinen gesonderten Bereich. Ich hatte mir vorgestellt, dass sie ihre Spinde nebeneinander hätten, vielleicht sogar mit ihren Namen darauf. So ist es jedenfalls bei den Cheerleadern. Aber hier lässt sich unmöglich erkennen, welcher Spind wem gehört.
Ich öffne auf gut Glück ein paar der unverschlossenen Schließfächer, doch alle sind leer. Ich hatte erwartet, dass alle Jungs ihre Fächer offen lassen; ich meine, was haben sie denn schon, was man wegschließen müsste? Haargel? Mein Herz klopft so schnell, dass ich Angst habe, es zerspringt gleich. Was, wenn jemand reinkommt und mich hier sieht? Ich habe nicht die kleinste Ausrede dafür, wieso ich in der Umkleide der Jungen bin.
Es fühlt sich anders an, diese Aktion ganz allein durchzuziehen. Irgendwie macht es mir so viel mehr Angst.
Hektisch
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