Auge um Auge
Treffen am Hafen so superspät nach Hause kam, war sie noch auf. Ich habe sie dringend gebeten, meinen Eltern nichts davon zu sagen. Wenn die davon erführen, würden sie vermutlich sofort ins Auto steigen und mich zurückholen. Tante Bette sagte zwar weder Ja noch Nein dazu, aber da meine Eltern bisher nicht mit ihrem Minivan hier aufgetaucht sind, gehe ich mal davon aus, dass Tante Bette tatsächlich nichts gesagt hat.
Sie ist wirklich cool, meine Tante.
Sobald sie ins Bett gegangen ist, schleiche ich mich nach draußen und warte auf Kat. Ich sitze mit ausgestreckten Beinen am Straßenrand. In den anderen Häusern brennt nirgends mehr Licht, weit unten im Tal kann ich gerade noch den Mond erkennen, knapp über dem Wasser. Wenn ich mich stark genug konzentrierte, könnte ich garantiert das Meer hören.
Endlich kommt Kats Cabrio mit ausgeschalteten Scheinwerfern die Straße herauf, und ich springe auf.
Kat hält direkt vor mir an. »Hey«, sagt sie, »bist du bereit?«
»Total«, antworte ich, während ich über die Tür auf den Rücksitz klettere. »Ich kann’s kaum erwarten, bis ich selbst fahren darf.« Sicher, ich liebe mein Fahrrad, aber mit Führerschein käme ich eben sehr viel weiter. Vorausgesetzt, Tante Bette leiht mir ihren Volvo.
Kat dreht sich zu mir um. »Wieso setzt du dich nach hinten? Ich bin doch kein Chauffeur.«
Ich werde rot. »Ich weiß nicht – ich dachte, Lillia sitzt vorn.«
Erst fühle ich mich dumm und ungeschickt, bis Kat im Losfahren sagt: »Ich könnte wetten, genau das erwartet sie auch. Für Prinzessin Lillia stets nur das Beste.«
»Es macht mir wirklich nichts aus«, sage ich und beuge mich vor.
Kat schnaubt leise. »Natürlich nicht«, sagt sie, aber ihr Tonfall ist nett, es klingt nach einem Kompliment.
Kurz darauf stehen wir auch schon vor Lillias Haus. Es ist groß und modern, eigentlich schon kein normales Haus mehr, eher eine Villa. Lillia wohnt im elegantesten Teil der Insel, in White Haven. Die meisten Häuser hier sind von dichten Hecken umgeben, sodass sie von der Straße aus kaum zu sehen sind. Die Grundstücke sind riesig, die einzelnen Häuser liegen weit auseinander. In die dazu gehörigen Garagen passen jede Menge Autos, und die Gärten mit dem englischen Rasen sind perfekt gestylt.
Kat macht Motor und Lichter aus. Sie pustet sich den Pony aus der Stirn und sagt: »Mal wieder spät dran – typisch Lillia. Keine Rücksicht auf andere.«
Ich schmunzle in mich hinein, sage aber nicht, was ich denke – dass Kat selbst auch zu spät gekommen ist.
Der Wind frischt auf, während wir da im Dunkeln sitzen. Kat schließt den Reißverschluss ihres Kapuzenshirts und dreht sich zu mir um. »Ist dir nicht kalt? Vielleicht ist im Kofferraum eins von Pats Arbeitshemden.«
»Nein«, sage ich und zupfe an meinen blassrosa Shorts, »überhaupt nicht. Macht wohl die Aufregung.«
In dem Moment erscheint Lillia. Bis sie näher kommt, kann ich nur ihr Gesicht sehen, so dunkel ist es draußen. Ganz in Schwarz gekleidet – schwarzer Rolli, schwarze Leggings, schwarze Ballerinas –, huscht sie die Einfahrt herunter.
Kat bricht in schallendes Gelächter aus. »O mein Gott!«
Atemlos kommt Lillia zum Auto gerannt. »Hey«, sagt sie und steigt ein.
»Lillia, wir hatten eigentlich keinen Banküberfall geplant.«
»Wir müssen trotzdem vorsichtig ein«, verteidigt sie sich. Dann wirft sie einen Blick zu mir nach hinten und runzelt die Stirn. »Na ja, ist vielleicht nicht so wichtig.«
Ich komme mir vor, als hätte ich wieder einmal alles falsch gemacht. Wir drei sind gleich alt, doch die beiden kommen mir so viel älter vor.
Alex wohnt nicht weit von Lillia; es sind gerade mal ein paar Kilometer. Das Haus seiner Familie ist genauso groß wie das der Chos, aber in einem traditionelleren Stil erbaut, mit viel Backstein. Sie haben sogar ihren eigenen Anleger, an dem ein Rennboot vertäut ist.
Kat fährt langsamer und löscht die Scheinwerfer, sobald wir uns dem Haus nähern. Sie parkt ein paar Häuser weiter.
Ich kann es noch immer nicht fassen, dass es jetzt wirklich losgehen soll.
»Weiß jede genau, was sie zu tun hat?«, fragt Lillia. Die Frage ist an uns beide gerichtet, aber Lillias Blick im kleinen Schminkspiegel auf der Beifahrerseite ist nur auf mich gerichtet.
Wir haben entschieden, dass ich Wache halte, und ich bin erleichtert, dass ich nicht selbst in Alex’ SUV einbrechen muss. Tante Bette mag zwar ganz cool sein, aber ich fürchte, wenn sie mich aus dem
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