Augen für den Fuchs
eine neue Bedeutung zu haben.
Pascal krähte fröhlich. Er hatte seinen Schlaf beendet und wollte wohl spielen. Bettine Stuchlik hob ihn mit beiden Händen hoch über den Kopf, als könne er fliegen. Dann drückte sie sein Gesichtchen an ihren Mund und küsste und küsste. Dann verwischte sie die Tränen in ihrem Gesicht.
»Wenigstens hat Frank Pascals Geburt noch erlebt. Er freute sich sehr auf das Kind. Er war seine Hoffnung und sein Vermächtnis. Nicht war, mein Schatz, du bist Papas Liebstes gewesen.«
Und als hätte er sie verstanden, brabbelte Pascal eine Antwort. Bettine Stuchlik küsste ihn wieder. Kohlund war es peinlich, diese Intimitäten zu sehen. Die Wolken vor dem Fenster waren dunkler geworden.
»Wie alt ist er?«
»Neun Monate.«
Bettine Stuchlik setzte sich auf die weiß bezogene Matratze des Bettes. Sie öffnete ihre Bluse und begann zu stillen. Pascal war glücklich. Kohlund fragte sich noch immer, wie Frank Stuchlik sich selbst erwürgt haben könnte. Bettine Stuchlik musste ihm die Antwort noch geben. Er war sich sicher, dass Frank Stuchlik mit seiner Gattin darüber gesprochen hatte.
Das Bett quietschte nicht. Es war klinisch weiß und mit vielen Knöpfen versehen. Auf dem Nachttisch lagen die Fernbedienung fürs Fernsehen und eine Büroklammer.
»Es war ganz einfach. Wir haben den Draht mitgebracht, den er sich nach der Abendvisite ans Bettgestell gebunden hat. Und dann … dann …«
Bettine Stuchlik drückte an einem Schalter, und das Kopfende des Bettes kam langsam nach oben, bis es aufrecht stand. Der Bezug hatte sich nur wenig verzogen, schlug kleine Falten.
»Dann war es endlich vorbei.«
34
Beetz stand im Foyer der Zeitungsredaktion und wartete. Sie wollte Joseph überraschen. Sie las in der heutigen Zeitung über Energiekostensenkungen, Nachtflugverbot und Gnadenlose Buhs vom entsetzten Publikum. Sie schritt die lange Glasfront auf, ab, beschaute die verschiedenen Ständer mit Publikationen. Meist war es Werbung. Der Sicherheitsmann hinterm Pult des Empfangs hatte ihr bereits mehrmals seine Hilfe angeboten. Sie lehnte sie ab. Eine Überraschung mit Voranmeldung ist keine mehr.
Immer noch sah sie Bettine Stuchlik an ihr vorbeilaufen. Schwarz, aufrecht, erhobenen Hauptes. Die Witwe hatte sie keines Blickes gewürdigt. Der Kleine auf ihrem Arm hatte Beetz mit erstaunten Augen entgegengeblickt und gelacht. Kohlund war zu Monique und ihr ins Schwesternzimmer getreten und hatte genickt.
»Es ist vorbei.« Dann hatte er sich aus der Kaffeekanne bedient. »Beschissener Fall«, hatte er noch gesagt.
Beetz verstand die Motive aller handelnden Personen. Keiner trug Schuld. Es war weder ein Gewaltverbrechen noch ein Unfall, und trotzdem war Frank Stuchlik ein Fall für die Mordkommission zwei geworden. Weil Stuchlik nicht natürlich sterben konnte. Weil ihm die Hilfe gesetzlich verwehrt wurde. Stuchlik wollte seine Familie nicht in den geringsten Verdacht der Sterbehilfe bringen und ersann eine Todesmaschine im eigenen Bett. Ob seine Frau oder die Verwandten ihm die Schlinge um den Hals gelegt hatten, war letztlich egal. Stuchlik lebte, als sie sich von ihm verabschiedet hatten. Die Schwestern hatten ihn weiter behandelt und ihm Medikamente verabreicht. Beetz mochte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie eines Tages Josephs Krankenzimmer verlassen müsste, in dem Wissen, ihn niemals wieder lebend zu sehen.
Aktive Sterbehilfe war in Deutschland ein Verbrechen. Aber Frank Stuchlik hatte seine Familie vor diesem Verdacht geschützt. Sie hatten eine Möglichkeit des Selbstmords gefunden. Keiner würde verurteilt werden. Frank Stuchlik war ein Fall für die Mordkommission geworden, weil eine Krankenschwester den Draht entfernt hatte. Sonst hätten sie den Fall schneller geklärt. Serafina Karataeva hatte um ihren eigenen Job gebangt, den sie unter falschem Namen angenommen hatte. Beetz sah diesen geschniegelten Dr. Bornschein vor sich am Tisch sitzen und grinsen. Mit Freuden würde sie ihre Aussagen vor Gericht machen. Bornschein wollte sie hinter Gittern sehen und sie würde alles tun, ihn genau dahin zu bringen. Für Jahre. Für mehrere Jahre. Beetz waren die Urteile in solchen Betrugsfällen oft zu lasch. Die Angeklagten hatten meist genügend Rücklagen, um den teuersten Anwalt zu bezahlen, außerdem schienen ihr die Strafmaße unangemessen. Dr. Bornschein hatte die Not und Verzweiflung seiner Klienten gnadenlos ausgenutzt. Nach Merghentins ersten Recherchen hatte er weit
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