Augen für den Fuchs
unter Tarif und Vertrag mit den Firmen seine Löhne gezahlt. Die Karataeva, die Schwitters und ihre Kolleginnen hatten kaum eine Chance zum Protest oder nur unter Strafe des Verlusts ihres Arbeitsplatzes und möglicher strafrechtlicher Verfolgung. Beetz konnte die Frauen verstehen. Ihnen helfen konnte sie nicht.
Beetz musste sich mit Rechtsanwalt Dr. Luger in Verbindung setzen. Er sollte ihr den Kontakt zu seiner Klientin ermöglichen. Dr. Luger musste das nicht. Aber sie würde alles daransetzen, mit Serafina Karataeva persönlich zu sprechen. Im Prozess gegen Time is Money sollte die Ukrainerin Zeugin der Anklage sein. Beetz konnte sich nicht vorstellen, dass der Staatsanwalt auf sie verzichtete. Es würde einen Deal geben, da war sich Beetz sicher. Einen Deal zum beiderseitigen Vorteil. Sie hoffte, dass sich Serafina Karataeva und ihr Anwalt der Macht bewusst waren, die sie besaßen.
Beetz blickte zur Uhr. Mein Gott, durfte dieser Mann kein Privatleben haben? Sie blätterte in einem klassischen Thriller zum Sonderpreis.
»Wenn Se lesen, missen Se goofen!«
Beetz stellte den Roman zurück ins Regal. Sie griff zum Handy und wählte. »Joseph?«
»Ja, meine Liebe? Hast du Sehnsucht nach mir?«
Joseph konnte nicht wissen, wie nah er ihren Gedanken kam.
»Ach, ich ruf nur so …«
Sie musste mit jemandem sprechen. Sie musste mit Joseph sprechen. Der Fall Stuchlik war geklärt, sie brauchte eine Schulter, an der sie ihre Seele ausschütten konnte. Joseph hatte solch eine Schulter. Beetz lehnte oft an ihr und fühlte sich wohl.
»Joseph, weißt du, ich habe mir vorgestellt, wir verbringen mal den Abend für uns. Gehen tanzen oder ins Kino oder gut essen oder was dir sonst einfällt. Ich brauch dich …«
»Fall abgeschlossen?«
»Mehr oder weniger. Dieser dubiosen Firma Time is Money ist das Wirtschaftdezernat auf der Spur. Wir sind da draußen. Mit dem Mord im Krankenhaus hatte die nichts zu tun. Es war auch kein Mord.«
»Was war es denn dann? Ist für mich vielleicht eine Schlagzeile drin?«
Beetz hatte diese Frage erwartet, Joseph stellte sie immer. Und immer antwortete sie strikt mit Nein. Aber diesmal? Sie könnte Bettine Stuchlik fragen, ob sie über den Tod ihres Mannes und sein Leiden berichten wollte. Sterbehilfe war ein Thema. Der Tod war keines.
»Er hat es selber getan.«
»Der Ermordete?«
»Ja. Es war kein Mord. Es war Selbstmord. Der Kranke wollte sich nicht mehr quälen, angeschlossen an Apparate und Schläuche, mit Schmerzen, die nie mehr aufhören würden. Er wollte nicht leben, nur sterben.«
»Lieber Alzheimer als Krebs!«
Beetz war nicht zum Scherzen. Sie hatte das ausgezehrte Gesicht des Toten gesehen, wie ein Häftling im KZ. Die eingefallenen Wangen, die tief liegenden Augen, die Falten der Haut waren kein Schlankheitswahn, das war der Tod. Der jedoch hatte Frank Stuchlik nicht gnädig in seine Arme genommen. Stuchlik hatte Qualen gelitten, die Beetz sich nicht vorstellen mochte.
»Vielleicht kannst du doch drüber berichten. Wär wichtig.«
»Berichten? Über Selbstmord? Dann muss er schon vom Weisheitszahn springen oder vor einen Zug im Hauptbahnhof. Ein Selbstmord ist nicht spektakulär. Daran sind unsere Leser nicht interessiert.«
»Glaubst du?«
»Weiß ich. Guck dir doch die Hartz-IV-Berichterstattung an! Auf jedem Kanal, in jedem Blatt. Soziales Elend aller Orten. Ich kann nicht auch noch die Zeitung nur mit den Bildern und Berichten zuknallen. Unsere Leser wollen was Heiteres und auch mal Lachen. Selbstmord, nee, Fränze, Selbstmord kann keine Auflage bringen. Glaub’s mir, das ist der mediale Tod.«
Joseph lachte über seinen eigenen Scherz. Beetz klang es wie Hohn. Sie sah die Witwe vor sich, sie sah die Kinder, sie sah den Toten im Bett. »Aber das Leid und der Mut, sich selbst umzubringen. Die Familie, die seinen Tod akzeptiert hat …«
»Kind, das ist keine Schlagzeile wert.«
»Und Sterbehilfe?«
»Ist auch kein Thema, da gibt es genug Dokus drüber. Und wenn es dich betrifft, die Organisationen kannst du übers Internet finden. Die haben auch Stützpunkte in Deutschland. Anruf genügt.«
»Gut zu wissen.«
»Fränze?«
Da hatte wohl Joseph ihre sarkastischen Zwischentöne gehört. Jetzt klang er freundschaftlicher, so wie sie ihn kannte, so wie sie ihn mochte, nicht mehr aufgesetzt lustig, wie er wohl glaubte, dass Reporter zu sein hatten.
»Ich brauche dich, Joseph. Komm, gehen wir aus. Irgendwohin. Egal. Ich will bei dir sein. Mehr
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