Augenzeugen
Außenfläche sehen konnte. Über alle vier Finger und den Handrücken zogen sich tiefe, blaurote Zahnabdrücke.
Van Appeldorn gab einen leisen Pfiff von sich. «Alle Achtung!»
Der Arzt lächelte ein bisschen verlegen. «Es kann natürlich sein, dass der Mann sich vor Schreck oder in Panik selbst in die Hand gebissen hat, aber das will mir nicht so recht in den Kopf.»
Toppes Kommentar dazu ging in lautem Bremsenquietschen unter, das von der Brücke her kam. Auch auf dem Deich hatten inzwischen Autos angehalten, und Neugierige versuchten, sich einen Reim zu machen auf das Bild, das sich ihnen bot.
«Wie wär’s denn mal mit Absperren, Jungs?», rief van Appeldorn, aber Look telefonierte schon um Verstärkung.
Klaus van Gemmern, der die ganze Zeit unauffällig mit der Spurensicherung beschäftigt gewesen war, hatte offenbar gute Ohren. Er war jetzt dabei, dem Toten Plastiktüten über die Hände zu ziehen, damit keine möglichen Spuren verwischt wurden. Dann nahm er seine Kamera und machte, langsam die Leiche umrundend, weitere Aufnahmen. Sie sahen, wie er plötzlich innehielt und sich über die hintere Stoßstange des Unfallwagens beugte.
«Ist was?», rief van Appeldorn.
Van Gemmern drehte sich widerwillig um – er hasste es, wenn man ihn bei der Arbeit störte. «Weiß ich noch nicht. Lasst den Wagen einschleppen. Da gibt’s was abzuklären. Ach ja, und sagt denen in der Pathologie, bevor die die Leiche waschen, erst die Hände! Man weiß ja nie, wer Dienst hat.»
Toppe nickte. «Ich wette, der legt wieder eine Nachtschicht ein», meinte er leise.
Van Appeldorn zuckte die Achseln. «Wenn man sonst nichts hat im Leben … Ich wäre ihm aber durchaus dankbar, wenn er uns schnell was liefern würde, denn im Augenblick passt hier nichts so recht zusammen.» Der Wind wehte ihm das lange schwarze Haar in die Augen.
Helmut Toppe zündete sich eine Zigarette an. «Lass uns mal den ganzen Weg abgehen.»
Aber auch als sie eine halbe Stunde später wieder neben Toppes Auto standen, waren sie nicht schlauer geworden. Toppe gab die Kurzwahl für die Prosektur in Emmerich in sein Handy ein. «Ich rufe erst mal Arend an und frage, wann er die Sektion machen kann.»
Mit Arend Bonhoeffer, dem Chef der Pathologie, war er seit vielen Jahren befreundet, aber in den letzten Monaten hatten sie sich kaum gesehen. Bonhoeffer freute sich. «Dass du dich mal meldest! Ach so, beruflich. Nein, kein Problem, den kann ich mir gern noch heute vornehmen. Ich habe jetzt gleich allerdings noch einen Termin, hm, sagen wir gegen halb acht? Und komm doch selbst dazu. Vielleicht können wir hinterher noch ein Glas Wein zusammen trinken. Wann gebt ihr eigentlich endlich eine Einweihungsparty?»
«Wir sind doch noch gar nicht richtig zu Hause», antwortete Toppe säuerlich.
Van Appeldorn hatte währenddessen mit dem Bestatter telefoniert, der den Leichnam in die Prosektur bringen sollte. «Willst du bei der Obduktion dabei sein, oder soll ich dir das abnehmen?», fragte er und grinste frech – sie kannten ihre jeweiligen Schwächen.
Aber Toppe überraschte ihn. «Ich mach das schon. Du kannst inzwischen Geldeks Witwe benachrichtigen und rauskriegen, warum der hier unterwegs war.»
Van Appeldorn zog die Augenbrauen hoch. «Ich bin davon ausgegangen, dass du das übernimmst. Du kennst die Dame schließlich, ich nicht.»
«Eben drum.» Jetzt grinste Toppe. «Sollte Arend was Wichtiges finden, ruf ich dich an», sagte er und stieg ins Auto. «Ich denke, ich fahr nochmal kurz nach Hause.»
Im Schritttempo rollte er den Betonweg entlang und betrachtete den unruhigen Himmel, der nicht zu wissen schien, was er wollte – dunkelgraue und schneeweiße Wolkengetüme, dazwischen blaue Flecken mit dahineilenden Federwölkchen. Es war viel zu kühl für Anfang August, und den ganzen Tag waren kurze Schauer niedergegangen. Noch vor einer Woche waren es an die dreißig Grad gewesen, aber er hatte darüber nur geflucht und schwitzend mit Teppichrollen, Farbeimern und Möbelstücken gekämpft. Fast ihr ganzer Jahresurlaub war für den Umzug draufgegangen, Astrids und seiner.
An der Kreuzung hielt Toppe an und kurbelte das Fenster herunter. Der Rhein roch frisch, angenehm vertraut.
Sein wievielter Umzug war das nun gewesen? Er dachte an die verschiedenen Stationen seines Lebens und rechnete – der neunte –, und so, wie es aussah, der einzige, auf den er wirklich gern verzichtet hätte. Ob er sich in dem Reihenhaus in der spießigen
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