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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Traurigkeit und der ganze Jammer dieser Geschichte so richtig bewußt. Die auf dem Bahnsteig mitlaufenden Leute setzten sich in Trab, dann rannten sie. Er streckte die Hand aus und zog O’Brian an Bord. Der Zug kam in Fahrt. Der Bahnhof verschwand.

32. Kapitel
    Sie schwankten den schmalen, mit blauem Teppich ausgelegten Gang entlang, bis sie ihr Abteil gefunden hatten der Wagen hatte acht Abteile, und ihres lag ungefähr in der Mitte. O’Brian öffnete die hölzerne Schiebetür, und sie stolperten hinein.
    Es war nicht allzu schlecht. Für tausend Rubel pro Person in der »weichen« Klasse bekamen sie zwei staubige, tiefrote Liegen, die einander gegenüberstanden, und jede hatte ein säuberlich zusammengefaltetes weißes Nylonlaken, eine zusammengerollte Matratze und ein Kissen; eine Menge Täfelung aus Holzimitation; Leselampen mit grünen Schirmen, einen kleinen Klapptisch; Abgeschiedenheit.
    Durch das Fenster konnten sie die Streben der eisernen Brücke vorbeigleiten sehen, aber sobald sie den Fluß hinter sich hatten, war in dem Schneesturm nichts mehr zu sehen als ihre eigenen Spiegelbilder, die ihnen entgegenblickten – erschöpft, durchgefroren, unrasiert. O’Brian zog die gelben Vorhänge zu, klappte den Tisch herunter und legte ihr Essen darauf – einen unansehnlichen Laib Brot, irgendwelchen getrockneten Fisch, eine Wurst, Teebeutel –, während Kelso sich auf die Suche nach heißem Wasser machte.
    Ein schwarz angelaufener Samowar stand am hinteren Ende des Ganges, gegenüber der Kabine der Schaffnerin, ihrer prowodniza: einer schwer gebauten, finster dreinschauenden Frau, die in ihrer graublauen Uniform aussah wie eine Lageraufseherin. Sie hatte einen kleinen Spiegel so montiert, daß sie den Gang im Auge behalten konnte, ohne von ihrem Schemel aufstehen zu müssen. Kelso konnte sehen, wie sie ihn beobachtete, als er stehenblieb, um einen Blick auf den an der Wand angebrachten Fahrplan zu werfen. Vor ihnen lag eine Fahrt von mehr als zwanzig Stunden mit dreizehn Haltepunkten, Moskau nicht eingerechnet, wo sie kurz nach vier am nächsten Nachmittag ankommen würden.
    Zwanzig Stunden.
    Wie groß waren ihre Chancen, so lange unbehelligt zu bleiben? Er rechnete. Moskau würde spätestens im Laufe des Vormittags erfahren, daß die Operation im Wald gescheitert war. Dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als den einzigen von Archangelsk kommenden Zug anzuhalten und zu durchsuchen. Vielleicht wäre es klüger, wenn er und O’Brian schon früher aussteigen würden – vielleicht in Sokol, das sie um sieben Uhr morgens erreichen würden, oder besser noch, in Wologda (Wologda war eine große Stadt) – den Zug in Wologda verlassen, in ein Hotel gehen, die Amerikanische Botschaft anrufen…
    Er hörte, wie hinter ihm eine Schiebetür geöffnet wurde, und ein Geschäftsmann in einem maßgeschneiderten blauen Anzug kam aus seinem Abteil und ging in die Toilette. Die Eleganz dieses Mannes machte Kelso die eigene, bizarre Aufmachung – schwere wetterfeste Jacke, Gummistiefel – bewußt, und er eilte den Gang entlang. Es empfahl sich, andere Menschen so gut wie möglich zu meiden. Er bat die Schaffnerin mit der grimmigen Miene um zwei Plastikbecher, füllte sie mit kochendheißem Wasser und machte sich vorsichtig auf den Rückweg zum Abteil.
    Sie saßen einander gegenüber und kauten auf dem trockenen, alten Essen herum.
    Kelso sagte, daß er es für richtig halte, wenn sie den Zug früher verließen.
    »Weshalb?«
    »Weil ich meine, daß wir es nicht riskieren sollten, daß man uns festnimmt. Nicht, bevor unsere Leute wissen, wo wir uns aufhalten.«
    Der Amerikaner dachte darüber nach und biß ein Stück Brot ab. »Sie glauben also wirklich, die hätten uns da oben im Wald erschossen?«
    »Davon bin ich überzeugt.«
    O’Brian hatte seine Panik von vorher offenbar vergessen. Er wollte widersprechen, aber Kelso fiel ihm ins Wort. »Denken Sie doch eine Minute darüber nach. Stellen Sie sich vor, wie einfach das gewesen wäre. Die Russen hätten nur zu sagen brauchen, daß irgendein Irrer im Wald uns als Geiseln genommen hätte und sie ein paar Leute von der Spezialtruppe schicken mußten, die uns befreien sollten. Sie hätten es so aussehen lassen können, als hätte er uns ermordet.«
    »Aber das hätte doch niemand geglaubt…«
    »Natürlich hätte man das geglaubt. Er ist ein Psychopath.«
    »Wie bitte?«
    »Ein Psychopath. Deshalb wollte ich ihn nicht mitnehmen. Die Hälfte der Leute, deren Gräber wir

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