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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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und sah ihn verständnislos an. »Da, die Brücke«, wiederholte Kelso. »Die, die wir heute morgen überquert haben.«
    Kurz darauf fuhren sie unter ihr hindurch – eine Doppelbrücke, halb Bahnstrecke, halb Fahrstraße, eine schwere Eisenkonstruktion, von der Stalaktiten aus Eis herabhingen. Ein starker Gestank nach Abwässern und Chemikalien hüllte sie ein, und Fahrzeuge dröhnten über ihre Köpfe hinweg – und als Kelso zurückschaute, nachdem sie die Brücke passiert hatten, konnte er sehen, wie sich Scheinwerfer langsam durch den Schnee bewegten.
    Der vertraute Umriß der Hafenmeisterei erschien vor ihnen auf der rechten Seite, und vor dem Gebäude ragte ein Anleger mit festgemachten Booten ins Wasser. Sie stießen gegen eine Eisscholle, die sie übersehen hatten, und Kelso und O’Brian wurden vorwärtsgeschleudert. Der Motor erstarb. Der Russe startete ihn erneut und setzte zurück, dann fand er eine Rinne, die offenbar früher am Abend von einem größeren Boot geschaffen worden war. Auch hier war Eis, aber es war dünner und zersplitterte, als ihr Bug darin einschnitt. Kelso warf einen Blick nach hinten auf den Russen. Er stand jetzt aufrecht, starrte mit der Hand am Ruder unverwandt in den dunklen Korridor, um sicher anlegen zu können. Sie kamen längsseits an den Anleger, und der Russe schaltete wieder den Rückwärtsgang ein, verlangsamte, hielt an. Er machte den Motor aus und sprang behend mit einem Tauende in der Hand auf die Holzplanken.
    O’Brian war noch vor Kelso aus dem Boot heraus. Sie stampften mit den Füßen, wischten sich den Schnee von der Kleidung, versuchten, wieder Leben in ihre erstarrten Gliedmaßen zu bringen. O’Brian fing an, von einem Hotel zu reden und davon, daß er das Büro anrufen müßte, aber Kelso fiel ihm ins Wort.
    »Kein Hotel. Verstanden. Kein Büro. Und keine verdammte Story. Wir müssen schleunigst von hier verschwinden.«
    Sie hatten noch dreizehn Minuten, um den Zug zu erreichen.
    »Und er?«
    O’Brian deutete mit einem Kopfnicken auf den Russen, der mit seinem Koffer in der Hand still dastand und sie beobachtete. Er wirkte seltsam verloren – sogar verletzbar, jetzt, wo er sich nicht mehr auf seinem vertrauten Territorium befand. Offensichtlich rechnete er damit, daß sie ihn mitnehmen würden.
    »Herr im Himmel«, murmelte Kelso. Er hatte die Karte aufgeklappt. Er wußte nicht, was sie tun sollten. »Lassen Sie uns einfach losgehen.« Er machte sich auf dem Anleger auf den Weg zum Ufer. O’Brian eilte hinter ihm her.
    »Haben Sie das Notizbuch noch?« Kelso klopfte auf seine Jacke.
    »Glauben Sie, daß er eine Waffe hat?« fragte O’Brian. Er warf einen Blick nach hinten. »Scheiße. Er folgt uns.«
    Der Russe trottete ungefähr ein Dutzend Schritte hinter ihnen her, unsicher und ängstlich wie ein streunender Hund. Aber es sah so aus, als hätte er sein Gewehr im Boot zurückgelassen. Also womit mochte er bewaffnet sein? fragte sich Kelso. Mit seinem Messer? Er schob seine steifen Beine vorwärts, so schnell er konnte.
    »Aber wir können ihn doch nicht einfach zurücklassen…«
    »Doch, das können wir«, sagte Kelso. Ihm wurde bewußt, daß O’Brian nichts von dem norwegischen Paar oder all den anderen wußte. »Ich erkläre es Ihnen später. »Glauben Sie mir einfach – wir sollten ihn keinesfalls in unserer Nähe dulden.«
    Sie rannten jetzt fast, ließen den Anleger hinter sich und erreichten den großen Busbahnhof vor der Hafenmeisterei – eine trostlose Schneefläche mit ein paar traurigen orangefarbenen Natriumdampflampen, deren Licht die wirbelnden Flocken einfing, keine Menschenseele weit und breit. Kelso wendete sich nach Norden, geriet auf dem Eis ins Schlittern, behielt aber die Karte in der Hand. Der Bahnhof war mindestens anderthalb Kilometer entfernt, und sie würden es nie rechtzeitig schaffen, jedenfalls nicht zu Fuß. Er schaute sich um. Ein kastenförmiger, sandfarbener Lada, der mit Schlamm und Sand bespritzt war, kam langsam aus der Straße zu ihrer Rechten, und Kelso rannte armeschwenkend auf ihn zu.
    In der russischen Provinz ist jeder Wagen ein potentielles Taxi. Die meisten Fahrer sind bereit, ihr Fahrzeug von einer Minute zur anderen zu vermieten, und der Lenker dieses Wagens machte keine Ausnahme. Er schwenkte auf sie zu, wobei er eine Fontäne aus schmutzigem Schneematsch aufschleuderte, und kurbelte schon im Herankommen sein Fenster herunter. Er machte einen respektablen Eindruck – vielleicht ein Lehrer oder ein

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