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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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auf dem Friedhof gesehen haben, hat er dorthin gebracht. Und es gab noch andere.«
    »Andere?« O’Brian hatte aufgehört zu essen.
    »Mindestens fünf. Ein junges norwegisches Paar und drei weitere arme Kerle, Russen, die zufällig falsch abgebogen waren. Ich habe ihre Papiere gefunden, während Sie unten am Fluß waren. Sie wurden alle zu dem Geständnis gezwungen, daß sie Spione waren, und dann erschossen. Ich versichere Ihnen, der ist ein ziemlich übler Zeitgenosse. Ich hoffe bei Gott, daß ich ihn nie Wiedersehen werde. Und das sollten Sie auch tun.«
    O’Brian schien Schwierigkeiten mit dem Schlucken zu haben. Fischstückchen steckten ihm zwischen den Zähnen. »Was, glauben Sie, wird mit ihm passieren?« sagte er leise.
    »Letzten Endes werden sie ihn vermutlich kriegen. Sie werden Archangelsk dichtmachen, bis sie ihn gefunden haben. Und, um ganz ehrlich zu sein, ich kann es ihnen nicht verdenken. Können Sie sich vorstellen, was Mamantow und seine Leute tun würden, wenn sie einen Mann in die Hände bekommen, der aussieht wie Stalin, redet wie Stalin und schriftliche Beweise hat, daß er Stalins Sohn ist? Wäre das nicht ein Mordsspaß für sie?«
    O’Brian war auf seinem Sitz zusammengesackt, hatte die Augen geschlossen und verzog das Gesicht. Kelso, der ihn betrachtete, verspürte plötzlich ein starkes Unbehagen. Im Trubel der Ereignisse hatte er Mamantow völlig vergessen. Sein Blick wanderte von O’Brian hinauf zu der Gepäckablage aus Draht, auf der die Jacke lag, in die immer noch die Mappe eingewickelt war.
    Er versuchte die Gedanken zu sammeln, schaffte es aber nicht. Sein Verstand machte die Schotten dicht. Es war mehr als drei Tage her, seit er zum letzten Mal richtig geschlafen hatte – die erste Nacht hatte er mit Rapawa zusammengesessen, die zweite hatte in einer Zelle unter der Zentrale der Moskauer Miliz geendet, die dritte hatte er mit der Fahrt nach Archangelsk auf der Straße verbracht. Er war so erschöpft, daß ihm alle Glieder weh taten. Er schaffte es gerade noch, seine Stiefel auszuziehen und sein bescheidenes Bett zurechtzumachen.
    »Ich bin erledigt«, sagte er. »Lassen Sie uns morgen früh überlegen, was wir machen.«
    O’Brian gab keine Antwort.
    Kelso schloß die Tür ab – eine eher unzulängliche Vorsichtsmaßnahme.
    Es mußten ungefähr zwanzig Minuten vergangen sein, bevor O’Brian sich endlich rührte. Kelso hatte inzwischen sein Gesicht zur Wand gedreht und driftete durch das Zwischenreich von Schlaf und Wachsein. Er hörte, wie O’Brian seine Stiefel aufschnürte, seufzte und sich auf der Liege ausstreckte. Der Schalter seiner Leselampe klickte, und das Abteil war dunkel bis auf das schwache blaue Nachtlicht über der Tür.
    Der riesige Zug ratterte langsam durch den Schnee nach Süden, und Kelso schlief, wenn auch nicht gut. Stunden vergingen, und die Geräusche der Fahrt mischten sich in seine unruhigen Träume – das eindringliche Geflüster in den Abteilen beiderseits von ihrem; das Platschen der Pantoffeln irgendeiner Babuschka, die auf dem Gang vorbeischlurfte; das ferne, winzige Geräusch einer Frauenstimme über einen Lautsprecher an den Stationen, die sie im Laufe der Nacht erreichten – Njandoma, Konoscha, Jerzewo, Woschega, Charowsk –, und Leute, die ein und ausstiegen; die grellweißen Bogenlampen auf den Bahnsteigen, deren Licht durch die dünnen Vorhänge drang; O’Brian, der eine Zeitlang sehr unruhig schlief und sich von einer Seite auf die andere drehte.
    Kelso hörte nicht, wie die Tür geöffnet wurde. Er nahm lediglich wahr, daß sich den Bruchteil einer Sekunde lang etwas in dem Abteil bewegte, und dann legte sich ein hartes Fleischpolster auf seinen Mund. Er riß die Augen auf, als sich die Spitze eines Messers an der Stelle in seine Kehle bohrte, wo das Fleisch des Unterkiefers mit der Luftröhre zusammentrifft. Er versuchte, sich aufzurichten, aber die Hand drückte ihn nieder. Er konnte die Arme nicht bewegen – sie steckten unter dem verwickelten Laken fest. Er konnte niemanden sehen, aber eine Stimme flüsterte dicht an seinem Ohr – so nahe, daß er den heißen Brodem aus dem Mund des Mannes spürte -: »Ein Genosse, der einen Genossen im Stich läßt, ist ein feiger Hund, und solche Hunde sollten einen Hundetod sterben, Genosse …«
    Das Messer glitt tiefer.
    Kelso war sofort hellwach – in seiner Kehle stieg ein Schrei auf, seine Augen waren weit aufgerissen, das dünne Laken war zusammengeballt, umklammert von seinen

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