Aurora
vergrößertes Schwarzweißfoto in einem billigen Holzrahmen: der Generalsekretär als jüngerer Mann, der an einem sonnigen Tag mit dem Genossen Lenin irgendwo in einem Garten saß. Am entgegengesetzten Ende des Zimmers befand sich eine Tür. Malenkow drehte sich zu ihnen um und legte den plumpen Zeigefinger auf die Lippen, dann öffnete er ganz langsam die Tür.
Der alte Mann schloß die Augen und hielt sein leeres Glas zum Nachfüllen hin. Er seufzte.
»Wissen Sie, mein Junge, die Leute kritisieren Stalin, aber eines muß man ihm lassen: Er hat wie ein Arbeiter gelebt. Ganz im Gegensatz zu Berija – der hat sich eingebildet, er wäre ein Fürst. Aber das Zimmer des Genossen Stalin war das Zimmer eines einfachen Mannes. Das muß man Stalin lassen. Er ist immer einer von uns gewesen.«
In der Zugluft der aufschwingenden Tür flackerte in der Ecke unter einem kleinen Lenin-Bild eine rote Kerze. Die einzige andere Lichtquelle war eine Leselampe auf einem Schreibtisch. In der Mitte des Zimmers stand ein großes Sofa, das als Bett hergerichtet worden war. Von ihm hing eine braune Armeedecke bis auf einen Tigerfell-Teppich am Boden herunter. Auf dem Teppich lag ein kleiner, dicker, rotgesichtiger Mann in einer schmutzigen weißen Weste und langer wollener Unterhose auf dem Rücken. Er atmete schwer und schien zu schlafen. Er hatte sich in die Hose gemacht. Das Zimmer war heiß und stank nach menschlichen Ausscheidungen.
Malenkow hielt sich mit seiner dicklichen Hand den Mund zu und blieb stehen, um die Tür zu schließen. Berija ging schnell auf den Teppich zu, knöpfte seinen Mantel auf und kniete sich hin. Er befühlte Stalins Stirn, zog mit den Daumen beide Augenlider zurück und entblößte blicklose, blutunterlaufene Augäpfel.
»Josef Wissarionowitsch«, sagte er leise, »ich bin’s, Lawrenti. Lieber Genosse, wenn Sie mich hören können, bewegen Sie bitte die Augen. Genosse?« Dann zu Malenkow, ohne den Blick von Stalin abzuwenden: »Und Sie sagen, er könnte so schon seit zwanzig Stunden hier liegen?«
Hinter der vorgehaltenen Hand machte Malenkow ein würgendes Geräusch. An seinen glatten Wangen liefen Tränen herunter.
»Lieber Genosse, bewegen Sie die Augen! Die Augen, lieber Genosse… Genosse? Ach, scheiß drauf.« Berija zog die Hände zurück, stand auf und wischte sich die Finger am Mantel ab. »Es ist tatsächlich ein Schlaganfall. Er ist hinüber. Wo sind Starostin und die anderen? Und die Butusowa?«
Malenkow schluchzte inzwischen richtiggehend, und Berija mußte sich zwischen ihn und Stalin stellen – mußte ihm buchstäblich die Sicht versperren, damit er ihm zuhörte. Er packte Malenkow bei den Schultern und begann, sehr leise und sehr schnell auf ihn einzureden, als hätte er ein Kind vor sich, sagte ihm, er solle Stalin vergessen. Stalin sei jetzt Geschichte. Stalin sei hinüber, und jetzt komme es nur darauf an, wie sie reagierten, daß sie zusammenhielten. Also, wo waren die Jungs? Immer noch in der Wachstube?
Malenkow nickte und wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab.
»Gut«, sagte Berija. »Und jetzt tun Sie folgendes.«
Malenkow sollte seine Schuhe wieder anziehen und den Wachen sagen, daß Genosse Stalin schlafe, daß er betrunken sei, und weshalb zum Teufel man ihn und den Genossen Berija für nichts und wieder nichts aus dem Bett geholt habe? Er sollte ihnen sagen, sie sollten das Telefon nicht anrühren und keinen Arzt rufen. (»Hören Sie mir überhaupt zu, Georgi?«) Vor allem keinen Arzt, weil der Generalsekretär alle Ärzte für jüdische Giftmischer hielt – Sie erinnern sich doch? So, und wie spät war es jetzt? Drei Uhr? Um acht – nein, lieber um halb acht – sollte Malenkow damit beginnen, die Führerschaft zusammenzurufen. Er sollte sagen, daß er und Berija eine Zusammenkunft des gesamten Politbüros wünschten, hier in Blischnjaja, um neun Uhr. Er sollte sagen, sie machten sich Sorgen wegen Josef Wissarionowitschs Gesundheitszustand und daß eine kollektive Entscheidung über eine ärztliche Behandlung getroffen werden müßte.
Berija rieb sich die Hände. »Das sollte reichen, damit sie sich vor Angst in die Hose machen. So, und jetzt wollen wir ihn auf das Sofa heben. Du«, sagte er zu Rapawa, »pack ihn an den Beinen.«
Der alte Mann war beim Reden tiefer in seinem Sessel zusammengesackt; seine Beine waren ausgestreckt, seine Stimme monoton. Plötzlich schnaufte er heftig und richtete sich im Sessel auf. Er schaute sich nervös im Hotelzimmer um.
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