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Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers

Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers

Titel: Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: FUEGO
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Aus dem Fenster meines Zimmers sah ich direkt auf das Regierungsviertel.
    Im anderen Bett lag Herr Mommsen, der mir sofort seine ganze Krankengeschichte erzählte. Eine Stunde später fragte er: »Entschuldigung, weswegen bin ich noch mal hier?« Ich antwortete wahrheitsgemäß: »Verdacht auf Alzheimer, Herr Mommsen.« Aber der Verdacht erwies sich als unbegründet. Herr Mommsen hatte Maßanzüge für Walter Ulbricht geschneidert, und sein Gedächtnis brauchte er eigentlich nicht mehr, weil seine Frau ihn ständig anrief und ihm haarklein erklärte, was er als nächstes tun sollte. Auf Herrn Mommsen folgte Herr Kunz, der nach einem epileptischen Anfall durchgetestet werden musste. Nach der ersten Mahlzeit verschwand er entgegen ärztlicher Anordnung für eine Stunde und kam mit zwei großen Einkaufstüten voller Lebensmittel wieder. Er hatte einfach Angst zu verhungern.
    Ich nicht, denn in meiner Patientenakte stand der Vermerk »leicht adipöser Zustand«. Diese drei Worte ließen mich die verordnete Schonkost klaglos genießen, und obwohl ich bis heute nicht weiß, woraus das Getränk bestand, das sie auf der Neurologie »Kaffee« nannten, trank ich es mit großem Behagen. Zwischen den Mahlzeiten aß ich erstmals seit vierzig Jahren nichts. Im Fernsehraum sah ich am Sonntag mit anderen Schlaganfallkranken »Tatort« und »Anne Will«. Wir sahen immer nur das Erste, denn wir waren zu schwach zum Umschalten. Neben mir saß ein Mann, der seinen linken Arm nur mit dem rechten Arm bewegen konnte. Andere wurden einfach in den Raum geschoben und mit dem Gesicht Richtung Bildschirm drei Stunden abgestellt, bis »Titel, Thesen, Temperamente« anfing. Das war für uns zu viel.
    Jeden Tag erschienen andere Ärzte an meinem Bett, für die ich pfeifen und das Bein heben musste. Einmal kam einer mit sechs Studenten und sagte verschwörerisch: »Nichts verraten, die sollen selber drauf kommen.« Und dann mussten die Studenten durch geschicktes Fragen meine Krankheit herausfinden.

    Langweilig war es nie, dauernd wurde mir Blut abgenommen, auch mitten in der Nacht, und ich beteiligte mich außerdem an allen Testreihen, denn ich wollte mich irgendwie nützlich machen. In der »Cream and Sugar Study« ging es beispielsweise um erhöhte Blutfettwerte, und dafür musste ich auf nüchternen Magen einen Becher Schlagsahne trinken und zwei Stunden später ein riesiges Glas Zuckerwasser. Das war mein schlimmstes Erlebnis in der Charité. Jeden Abend besuchte mich mein Sohn, und ich ging mit ihm und meinem Perfusor in die Caféteria, sah ihm beim Verzehr eines Holzfällersteaks zu und fragte ihn, ob er die Vorhänge endlich angebracht habe.
    Ich fühlte mich eigentlich gar nicht schlecht, nur wenn sich die Tür des Krankenzimmers überraschend öffnete, bekam ich Angst, dass ein Krankenhausclown hereinkommen würde, um mich aufzumuntern. Da hätte mich der Schlag zum zweiten Mal getroffen.
    Nach sechs Tagen wurde ich entlassen. Man gab mir einen vorläufigen Arztbrief und die Broschüre »Leben mit Gerinnungshemmern« mit auf den Weg.
    Auf der Fahrt nach Hause erinnerte ich mich wieder an das Abendessen vor dem Schlaganfall. Inzwischen hatte mein Leben tatsächlich eine gewisse Dramatik bekommen. Ich hatte nun genug Stoff für den großen Schlaganfallroman, den Schlaganfallgegenwartsroman. War es das Verdienst der Literaturagentin? Hatte sie die ganze Veranstaltung im Springer-Hochhaus nur organisiert, um mir diese Erfahrung zu verschaffen? Schuldete ich ihr jetzt etwa Erfolgshonorar?
    Ich fühlte mich trotzdem irgendwie betrogen. Mir fehlte ja nichts. Im Moment des Schlaganfalls war noch nicht mal mein Leben an mir vorbeigezogen, sondern nur ein Reisebus voller Holländer. Trotzdem sammelte ich eifrig Material, um sobald wie möglich mit der Romanniederschrift zu beginnen. Aber dann fiel mir ein, dass Kathrin Schmidt letzten Herbst den Deutschen Buchpreis gewonnen hatte. Mit einem Schlaganfallroman. Ich war mal wieder zu spät dran.
    Was habe ich sonst noch zurückbehalten? Sobald ein Arzt in meine Nähe kam, begann ich unwillkürlich zu pfeifen und das Bein zu heben, aber das legte sich nach ein paar Wochen. Meine Krankenkasse schrieb mir einen Brief, in der sie mir eine »schnelle und flexible Bereitstellung aller Leistungen« anbot.
    Meine »persönliche Ansprechpartnerin« erklärte mir, wichtig sei meine Bereitschaft zur Kooperation. Nach einem Schlaganfall müsse man intensiv an sich arbeiten und trainieren. Es gebe Menschen, die

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