Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers
dänischen Tannenbäumen voll? Diese Bäume verstehen uns ja noch nicht mal. Kein Mensch sagt einem, wie man einen dänischen Weihnachtsbaum korrekt anredet. Es ist jetzt Ende Januar und bei einem Kontrollgang durch mein Viertel stellte ich fest, dass der Tannenbaumhändler seine abgezäunte Verkaufsfläche noch immer nicht abgebaut hat. Ein Bauwagen, ein Biertisch mit zwei Bänken stehen verwaist und dazu zehn Weihnachtsbäume, die er nicht verkaufen konnte. Ein seltsamer Anblick, der einen melancholisch stimmt. Ihre Kollegen hatten glanzvolle Auftritte, standen reich geschmückt in den Wohnzimmern und hörten wohl hundertmal den Satz: »Dieses Jahr haben wir aber wirklich einen schönen Baum.« Inzwischen wurden sie abgeschmückt an die Straße gelegt und am 11. Januar von der Müllabfuhr abgeholt. Der 11. Januar war in unserer Stadt der Weihnachtsbaumabholtag. Diesem grausamen Schicksal sind die vergessenen Bäume entgangen. Sie haben den 11. Januar überlebt. Doch was soll jetzt aus ihnen werden? Könnten sie mir vielleicht als Anregung dienen für einen, nein, für den großen Weihnachtsbaumroman, den die Literaturkritik seit Jahrzehnten fordert?
Arbeitstitel: »Das Leiden nicht gekaufter Bäume.« Handlung? Zehn Weihnachtsbäume, oder besser neun, sonst klingt das zu stark nach Negerlein, werden nicht nur nicht verkauft, sondern von ihrem Besitzer vergessen und stehen bis weit in den Februar auf einem abgezäunten Areal herum. Eines Tages kommt ein Auto ins Schleudern und reißt eine Lücke in den Zaun. Die Bäume erkennen ihre Chance und fliehen. Zunächst sind sie nur im Schutz der Dunkelheit unterwegs und halten sich überwiegend auf Grünflächen versteckt, wo sie sich tagsüber als Tannenwäldchen tarnen. Sie wandern ziel- und ahnungslos durch die ganze Republik, denn sie wissen nichts von Deutschland, weil sie ja aus Dänemark stammen. Bäume stammen übrigens naturgemäß immer irgendwoher. Ein skrupelloser Fabrikant für Nadelkissen fängt sie ein, sperrt sie in einen fensterlosen Raum und lässt sie für sich arbeiten, dabei stirbt ein Baum unter dramatischen Umständen, den anderen gelingt die Flucht. Sie kaufen sich Nadelstreifenanzüge, tarnen sich als sibirische Musikstudenten und betteln in der Fußgängerzone. Zwei Bäume werden drogensüchtig und nadeln sich zu Tode, am Ende bleibt nur einer übrig, der sich in eine junge Fleischfachverkäuferin verliebt, die ihn nach Hause einlädt. Dort stellt sie ihn in einen Ständer, legt ihm Schraubzwingen an, wirft ihm prächtigen Baumschmuck über und befestigt duftende Kerzen an seinen Ästen, der Baum muss ohnmächtig zusehen, wie sie es unter ihm mit dem Metzger treibt, und am nächstbesten 11. Januar wirft ihn das saubere Pärchen auf die Straße, wo ihn die Müllabfuhr abholt. Bevor der Baum in der Müllpresse zerquetscht wird, denkt er noch etwas bedeutungsvolles, etwa: »Wir Bäume haben doch immer die Arschkarte« oder »Was sind das nur für Zeiten, wo ein Roman über Weihnachtsbäume…« o.ä.. Vielleicht sollte der Baum noch herausfinden, dass seine Eltern hochrangige Eichen und in der NSDAP waren, damit der Verlag auf die Buchrückseite schreiben kann: »Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus entfaltet der Autor ein ebenso faszinierendes wie beklemmendes Porträt einer verlorenen Baumgeneration.«
Wie sieht eine unnormale Uhr aus?
Im Kurort Bad Homburg steht in der Louisenstraße eine Säule, an deren Spitze sich eine Uhr befindet und die sonst vollständig mit Werbetafeln bedeckt ist. Ganz unten, wo eigentlich nur Hunde hingucken, liest man die trotzige Botschaft: »Normaluhren gehören ins Stadtbild.« Bezweifelt das hier etwa jemand? Was ist da los in Bad Homburg? Was haben sie dort gegen Normaluhren? Eine Normaluhr hat die Aufgabe, die so genannte Normalzeit allgemein zugänglich zu machen, deshalb ist sie an einer zentralen Stelle der Stadt positioniert. Eine zutiefst demokratische Einrichtung, hinter der eine fast schon kommunistische Idee steckt. Die Zeit gehört allen, jeder soll jederzeit die Zeit ablesen können ohne Ansehen von Stand, Geschlecht, Alter oder Steuerklasse. Das schmeckt ihnen da in Bad Homburg nicht, das kann man verstehen. Bad Homburg zählt zum Hochtaunuskreis, dem reichsten Landkreis Deutschlands. Noch vor dreißig Jahren saßen dort vor den Geschäften zwielichtige Gestalten, die einem für fünfzig Pfennig die exakte Zeit verrieten, für zehn Pfennig erfuhr man wenigstens, ob es schon dunkel war.
Heute
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