Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers
2010
Januar
Rechtsnachfolger
In die Geschäftsräume von »Video-Express24« ist vor kurzem ein neuer Besitzer eingezogen. Wie der Name schon andeutet, konnte man bei »Video-Express24« Tag und Nacht Videos entleihen, es gab sogar einen automatischen Nachtschalter, der einem morgens um drei Uhr den dringend benötigten vierten Teil von »Beverly Hills Cop« ausspuckte. Natürlich war auch eine nächtliche Videorückgabe möglich. Der neue Besitzer heißt »Oberurseler Bestattungsinstitut W. Schwartz«, und auch er wirbt mit dem bewährten Slogan »Tag und Nacht.« Gestorben wird ja immer. Ein Zettel an der Tür informiert: »Da die Gestaltung der Außenanlage noch nicht abgeschlossen ist, können Sie uns im Moment leider nur telefonisch erreichen.« Anscheinend wollen sie aber möglichst wenig verändern und vor allem den Nachtschalter beibehalten, damit man auch morgens um drei seine Leichen einwerfen kann. Der kleine gelbe Briefkasten neben dem rechten Schaufenster dient dann wahrscheinlich zum Einfüllen von Asche.
Wie heißen Flusspferde in Wirklichkeit?
Der Berliner Zoo wirkt tief verschneit sehr angenehm, man möchte fast sagen, er macht einen würdevollen Eindruck. Es sind nur wenige Leute unterwegs und deshalb bestaunen die Tiere die Menschen. Zum Beispiel F. W. Bernstein und mich. Das Kamel blickt uns tief in die Augen und scheint gespannt, ob uns irgendein Vergleich einfällt, so eine Art Übertragung menschlicher Verhaltensweisen, etwa: »wie ein mürrischer Hausmeister eines altsprachlichen Gymnasiums versperrt uns plötzlich ein Kamel den Weg«, aber es ist einfach zu kalt für Vergleiche, Übertragungen und Allegorien. In der Anlage der Humboldtpinguine steht ein Graureiher und gibt sich große Mühe, wie ein Pinguin auszusehen. Die Pinguine glauben ihm kein Wort, aber uns kann er für zwei Sekunden täuschen. Hier ist die Evolution in vollem Gange, der Reiher hat vom Chamäleon gelernt und bald werden die ersten Exemplare in Berliner Behörden arbeiten, wo man sie von einem Sachbearbeiter nicht unterscheiden kann. In der Eisbäranlage gibt es jetzt sogar Eisschollen, es sieht fast schon zu echt aus. F. W. Bernstein hat den legendären Flusspferdbullen »Knautschke« noch persönlich gekannt und kann sich nicht vorstellen, dass er tatsächlich für die Stasi gearbeitet hat. Die Berliner lieben es traditionell, ihre Flusspferde zu demütigen, und geben ihnen Namen wie »Klops«, »Molle«, »Würstchen«, »Schrippe«, »Plumps« oder »Stulle.« Das haben die Tiere nicht verdient. Aber wie heißen Flusspferde wirklich? Wenn man ihnen länger zuschaut, weiß man es sofort: »Dr. Mossleitner«, »Graf Moltke« und »Geheimrat Eisenhuth«. Das sind echte Flusspferdnamen!
Zum Aufwärmen geht es dann noch schnell ins Aquarium, wo man stundenlang dem Treiben der Quallen zuschauen kann, und weil es Winter und uns so lyrisch zumut ist, seufzen wir: »Quallen sind Schneeflocken unter Wasser.« Anschließend versprechen wir uns in die Hand, niemals einen Gedichtband mit diesem Titel zu veröffentlichen.
Da liegt kein Segen drauf
Wenn es eine Berufsgruppe gibt, deren Arbeit ich größte Hochachtung entgegenbringe, dann sind das Sternsinger. Jedes Jahr rund um den 6. Januar schwärmen sie aus und schreiben einen Segen an die Haustüren, der wie eine Zauberformel klingt und wie eine mathematische Gleichung aussieht. Es ist eine verantwortungsvolle und wichtige Tätigkeit. In diesem Jahr wurde einfach nur ein Aufkleber mit der Formel (20 * C+M+B+10) in den Briefkasten geworfen, den sollte ich mir anscheinend sonst wohin kleben. Doch wahrlich ich sage: Sternsinger, das ist ein verhängnisvoller Irrweg! Wenn Gott gewollt hätte, dass wir unseren Kühlschrank mit Segensaufklebern schmücken, dann hätte er seinen Sohn nicht ans Kreuz nageln, sondern kleben lassen. Oder hätte er ihn tiefkühlen lassen? Wäre vielleicht noch logischer. Am dritten Tage auferstanden von dem Gefriergut.
Stoffsammlung für einen Tannenbaumroman
Die meisten Weihnachtsbäume kommen aus Dänemark. Acht Millionen werden von dort zu uns gebracht. Sie stammen aus Weihnachtsbaumintensivmastbetrieben, werden mit wachstumsfördernden Hormonen hochgespritzt und sind extrem schreckhaft. Wenn man so einen Intensivmastwald betritt und einmal hustet, verlieren die Bäume gleich die Nadeln. Anfang Dezember werden sie alle geschlachtet. Warum stellt der Däne sein ganzes Land mit Tannenbäumen und warum stellen wir unsere Wohnzimmer mit
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