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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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von den schwimmenden Einöden zwischen den fahlen Sternbildern, entschlossen, die Schwelle gemeinsam mit jener Frau zu betreten, die irgendwo in diesem Zimmer atmete, ein Opfertier, das stumm den Hieb des Priesters erwartet.
    Er stand lange in der Dunkelheit, nachdem er geschossen hatte, einmal, dann mehrere Male, ohne zu zielen; doch er wußte, daß er getroffen hatte. Dann schritt er gegen die Mitte des Zimmers, ohne sich töten zu können.
    »Ich will leben«, sagte er mit lauter Stimme, wie er nach ihr tastete, »ich will leben«, und dann noch einmal: »leben!« Er befühlte den Tisch, dessen Fläche ihm in der Finsternis unendlich schien, mit Rissen, denen er wie den Linien einer Hand nachfuhr. Er berührte mit den Fingern etwas Hartes, das er erst nach langem als den Kopf des Weibes erkannte. Es war das erste Mal, daß er zitterte. Er fuhr über ihren Leib und durch ihre Haare, auch fühlte er, daß seine Hand an diesem Leib blutig wurde. Dann stand er mitten im Dorf, das noch immer menschenleer zu sein schien. Der Dorfplatz gleißte. Er beugte 60

    sich über den Brunnen und schlug mit der Waffe das Eis ein.
    Wie er mit der Hand ins Wasser tauchte, löste sich Blut von ihm, um sich dann als eine dunkle Wolke vor der Scheibe des Mondes zu verbreiten, der gelb im Brunnen wie ein grober Teller lag, nach dem er greifen konnte. Er ging an leeren Fenstern vorbei über das Pflaster. Er kam an Giebelhäusern vorüber, und sein Schatten ging hart am Boden vor ihm her.
    Später erreichte er die Allee. Riesige Bäume standen zu beiden Seiten überdeutlich vor dem Himmel. Sie brachen aus der Erde und verkrallten sich in den Wolken wie Hände, die im Moor versinken. Er ging zwischen ihnen mit gleichmäßigen Schritten, und sein Schatten ging mit ihm. Hin und wieder kam der Wind, heulte von weitem und brauste durch die Bäume, jagte den Mond durch die öden Felder, daß dieser über die Hügel rollte, groß wie ein Haus, als ein fahler Kopf voll Schwären und Löcher, aus denen Riesenfliegen und grüne Käfer krochen.
    Doch war es nicht dunkler geworden, wie der Mond gesunken war, sondern alles lag ohne Schatten vor ihm, unbarmherzig und unwirklich. Er schritt dahin, ohne anders zu können. Sein Gesicht verwandelte sich. Es wurde undurchdringlich und fahl wie der erloschene Mond zwischen den Tannen. Der Weg war endlos durch die Allee und endlos der Himmel über ihm, durchzogen vom schwankenden Zug der Vögel, seinen Begleitern, deren Schrei von weitem an sein Ohr drang, in deren Flug alles lag, was ihn umgab: Bäume und Himmel, das Licht und die Straße, die er ging, aber auch sein sinnloses Leben mit seiner Lüge und mit seinem Verbrechen, der tote Leib des Weibes über dem Tisch mit den tiefen Rissen und das Blut im Brunnen. Dann dröhnten plötzlich die Glocken des Dorfs, und er hörte die fernen Schreie des Alarms. Von weitem glitten Motorräder heran, pfeilschnell vom fernen Horizont her, pfeifend umhüllten ihn die Wolken der Geschosse. Er warf sich nieder, kroch in einen Graben, eilte über die Felder, von Lichtkegeln erfaßt und wieder verloren. Der Wald nahm ihn 61

    auf, aber fast mit ihm drangen die Verfolger ins Holz. Von ihren Kugeln zersplitterten die Stämme. Schon sah er das Weiße ihrer Augen, die verzerrten Gesichter, die Messer, die sie nun aus ihren Mänteln rissen, aber dann kam der Schnee, eine ungeheure Decke, die sich lautlos heruntersenkte, eine kalte, sanfte Hand, die alle mit Blindheit schlug. So erreichte er sicher die Lichtung und stieg unbehelligt über den Toten, still schloß sich hinter ihm die Spur, fern und unnütz verhallten die letzten Schüsse der Verfolger. Er schritt durch den Wald, eingehüllt in seinen zerrissenen Mantel, unberührt vom Morgen, der irgendwo hinter den fallenden Schneemassen heraufdämmerte. Im Schneegestöber tauchten die ersten Häuser des Dorfes auf, verschwanden wieder. Männer standen bis zum Leib im Schnee mit großen Schaufeln, fluchten über ihre sinnlose Arbeit, denn immer gewaltiger wehte es heran. Er erreichte den Gasthof, zahlte, niemand kümmerte sich um ihn.
    Er bestieg den ersten Zug, der in die Hauptstadt zurückführte, ohne Gedanken, ohne Trauer, ohne Willen, während die wenigen Häuser, der treibende Fluß und die niedrigen Hügel hinter dem Fenster versanken, dessen Fläche, wie sich der Zug in Bewegung setzte, das schnell wachsende Eis schon zuge-schlossen hatte.

    Was er von nun an trieb, ist gleichgültig, denn es war sinnlos, was es auch

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